Der 100-Jährige, der nicht aus dem Fenster stieg und daher nicht verschwand…


Fiete Scheer Im Rahmen seiner Familie…

Einen Hundertjährigen zu interviewen macht Bauchdrücken im Vorwege. Zumal, wenn man sich fremd ist und selbst nie in der Zeit gelebt hat, die im bombastischen Langzeitgedächtnis dieser Menschen den größten Raum einnimmt. Hundertjährige sind so zerbrechlich. Und viel zu lange auf der Welt, um noch irgendetwas zu müssen … zuhören, ansehen, antworten gar. Muss man ihre Ruhe stören? “Sie stören nicht”, sagt Friedrich Scheers Sohn Gernot am Telefon. “Mein Vater hat gern Besuch. Aber kommen Sie bitte ein paar Tage nach dem Trubel. Und rufen Sie vorher an.” Am Tag X nach dem Geburtstagstrubel für den wahrscheinlich ältesten Einwohner Amrums nimmt die 95-jährige Frau des Jubilars den Anruf entgegen. Man spürt ihre Zerbrechlichkeit durch den Hörer. Das Bauchdrücken geht wieder los. So viele Menschen auf Amrum erzählen von so vielen netten Momenten mit Friedrich Scheer. Vielleicht muss man ihn gar nicht treffen, vielleicht kann man auch einen schönen Text schreiben, wenn man Menschen fragt, die ihn kennen. Anruf beim Bürgermeister in Nebel: Wie war es auf Friedrichs Geburtstag? Wer hat alles gratuliert? “Feuerwehr und Gesangsverein waren natürlich da”, sagt Bernd Dell-Missier. Friedrich Scheer hat die Feuerwehr Süddorf mit gegründet, seit 1957 ist er bei der Truppe. In den letzten Jahren, als er nicht mehr so gut zu Fuß war, haben sie ihn abgeholt zu ihren Versammlungen, und dieses Jahr im Januar, da sind sie zu ihm in sein Haus in Süddorf gekommen und haben ihn geehrt für 60 Jahre Feuerwehrleben. Ein paar Minuten später erzählt Dell-Missier von dem alten Mann, der gemeinsam mit seiner Frau täglich durch Süddorf spazierte und auf jeder Bank ein Verschnaufpäuschen einlegte. Die wärmenden Sitzkissen trugen die beiden Alten in der Hand, die gerade nicht die des Partners hielt. Von Bank zu Bank zu Bank – gemeinsam jahrelang. “Irgendwann rief er mich an”, erzählt Dell-Missier, “und nannte mir einen Ort Richtung Gewerbegebiet, wo dringend eine Bank hinmüsse; zu große Lücke. Und dann hat die Gemeinde da eine hingesetzt”, sagt er und lacht. “Ich kann Sie ja nicht drängen, aber gehen Sie ruhig hin und machen sich ein Bild von diesen beiden reizenden Menschen.”

“Bernd?” ruft Friedrich Scheer. “Ja, der war ja noch ganz klein damals. Der war immer beim Schmied gucken. War ja spannend da.” Beim Schmied in Nebel ließ Friedrich Scheer früher seine Pferde beschlagen.

Besuch:
Pastor Hildebrandt, Bürgermeister Bernd Dell-Missier, Christian Peters, Uwe Kümmel

Man kommt dem Hundertjährigen sehr schnell nahe, man muss ihm nämlich direkt ins Ohr rufen. “Aber ich hab’ doch gar nichts zu erzählen”, ruft der alte Mann zurück. “Ich war doch nur Landwirt. Da musst du meine Frau fragen.” Hilda Scheer sitzt gegenüber am kleinen Sofatisch im Sessel und liest die Inselzeitung. “Wir hatten Pferde, dann Kühe und dann Gäste.” Nach dem Krieg zogen die Pferde die Fuhrwerke mit Kohle und Brennmaterial, was zweimal in der Woche von Husum auf Schiffen zum Steenodder Hafen kam. Mitte der 1960er hörte das auf und Scheer schaffte sich einen Traktor an. “Pferde kosten Geld, die fressen immer, auch wenn sie nichts tun und nichts einbringen”, ruft Friedrich. Mit dem Traktor wird das Land beackert rund ums Haus in Süddorf, wo sie immer noch wohnen. Acht Kühe gaben Milch, Mehl wurde von Hand gemahlen. In der Stube, wo wir gerade sitzen, stand früher der Trecker. Friedrich Scheers Biographie kann man in der 1992-Chronik von Georg Quedens nachlesen.

Bis vor ein paar Jahren sah man Friedrich Scheer jeden Tag mit einem weißen Eimer die Hauptstraße runter Richtung Watt gehen und dann kurz vorher links weg verschwinden: Eier holen. Er hatte die Landwirtschaft zwar 1982 aufgegeben für den typischen Tausch – Kühe raus, Gäste rein – aber Hühner hatte er weiterhin. Wo sind die heute? “Die hab’ ich gegessen”, ruft er und lacht. Was sein Lieblingsgericht sei? “Aber ich esse doch alles”, sagt er. Und dann: “Buttermilchsuppe.” “Die hat meine Mutter früher immer selbst gemacht, sagt Sohn Gernot. Aus der Milch unserer Kühe.” – “Wenn wir die Kühe früher gemolken haben, kam die Milch in Kannen und die Dorfleute füllten sie sich dann ab”, ergänzt Friedrich Scheer. “Buttermilchsuppe macht heute die Jolanta. Ich habe ihr das gezeigt”, sagt Hilda Scheer. Die Haushalts- und Lebenshilfe kümmert sich liebevollst im Wechsel mit einer Kollegin rund um die Uhr um die beiden Alten. “Bis vor ein paar Jahren musste ich mir noch gar keine Sorgen um beide machen”, sagt Sohn Gernot. Mittlerweile verbringt er, der im Westerwald lebt, seinen Jahresurlaub immer bei den Eltern auf Amrum. Auch die ältere Schwester auf Föhr versucht so oft wie möglich da zu sein.

Fiete beim Angucken seines Geburstagsvideos…

Die Zerbrechlichkeit der beiden Alten berührt viele. Die Haustür steht offen und wer klopft, dem sagt Jolanta, ob die Zeit gerade gut ist für ein Schwätzchen oder eher nicht. Es klopft: Peter Koritzius, seit über dreißig Jahren Feuerwehrkamerad und ein Nachbar. Der auch nicht mehr junge Mann mit Prinz-Heinrich-Mütze auf dem weißen Haar hat einen riesigen Laptop unterm Arm, wo der Film drauf ist, der am Geburtstag gemacht wurde. Klappe auf, Film an, Ton laut: Der Nebeler Gesangsverein Rüm Hart war da, achtzehn Leute, alle rein ins Wohnzimmer der alten Leute, die fein gemacht im Sessel saßen, rappelvoll, Dreierreihen, alles hört auf das Kommando der Dirigentin: Dü min tüs min öömrang lun – die Amrumer Nationalhymne – haben sie gesungen, dann noch eins und noch eins – Hoch, eure Herzen. “Aus der Schule kenne ich das Lied noch” ruft Friedrich als der Nachbar schon wieder weg ist, und Gernot seinem Vater unter Lachen zu erklären versucht, was ein USB-Stick ist, und das da der Film drauf ist.

Wenn man den Mut aufbringt, einfach nichts zu fragen, kann man in dieser Runde prima schweigen. Wir essen Kekse, gebacken von der Tochter. Reichen immer wieder die Schale rum. Irgendwann fällt Friedrich dann die Geschichte mit den Holzschuhen ein. “Sind wir früher mit zur Schule in Nebel gelaufen, auch durch Schnee. Und wenn die nass waren, haben wir sie im Klassenzimmer an den Ofen gestellt”, erinnert er sich. “Da kamen immer Frauen rein, auch wenn wir Unterricht hatten, und haben Brennzeug nachgelegt” sagt Friedrich. Und der Lehrer, der habe geschlagen. “Der hatte seine zusammengedrehte Zeitung hinten in der Hosentasche”, sagt Friedrich. Wir schweigen. Die Alten haben abwechselnd die Augen zu. Zwischendurch die Unterhaltung mit dem Sohn. Was ist Glück? “Glück ist, dass Vater heil aus dem Krieg wiedergekommen ist”, sagt Gernot Scheer. “Er war in der Normandie, aber er hatte Glück.”

Um Jolanta, die im Haus wohnt, zu unterstützen, kommen die Helfer von der Nebeler Sozialstation jeden Tag und kümmern sich um die beiden Alten. “Ich bin so, so dankbar”, sagt Gernot Scheer. “Auch das ist Glück.” Die Nebeler kümmern sich nicht nur um Waschen, Tabletten und all die praktischen Dinge. Sie bringen auch Leben. Sieglinde Mahmens kommt täglich zur Unterhaltung. Worüber redet ihr? “Über früher”, ruft Fiete. ” Die beiden reden auch Plattdeutsch zusammen. “Sie kommt mit alten Magazinen oder Büchern, die interessiert sich dafür”, sagt Friedrich und man sieht ihm an, dass ihn das freut. Ich frage nach alten Fotos. “Gibt nicht so viele”, sagt der Sohn. “Meine Mutter hat irgendwann mal ziemlich gut aufgeräumt.” Kinka Tadsen war zum Geburtstag da und hat Fotos der Familie gemacht. Die beiden Alten, die zwei Kinder mit Partnern, die Enkel. Noch am selben Tag wurden die Fotos den Scheers ins Haus gereicht, gerahmt stehen sie nun auf der Fensterbank.

Weil Hilda Scheer nicht mehr die Stimmkraft hat, so laut zu rufen, unterhalten sich die beiden eigentlich kaum noch. Macht das was? Gernot Scheer lacht. “Sie wird manchmal ärgerlich, weil er sie nicht versteht. Und er winkt sie ab, weil er nichts hört.” Er schaut auf seine Eltern. “Aber wahrscheinlich ist zwischen beiden alles gesagt.”

Bestimmt zwei Stunden sind vergangen. Wir haben Kekse gegessen, viel geschwiegen und viel gerufen. Friedrich Scheer hat akzeptiert, dass man mit der Besucherin kein Friesisch sprechen kann, wie mit sonst fast jedem, der ins Haus kommt. Zum Abschluss korrigiert er die Aussprache der vier Sätzchen (Guten Tag / Wie geht es dir? / Mir geht es gut / Tschüs). In Gedanken heißt eine Sitzbank im Süddorfer Gewerbegebiet fortan Hilda-und-Friedrich-Scheer-Bank. Friedrich Scheer und seine Frau nicken. “Kommst mal wieder”, ruft Friedrich. Hildas Händedruck ist fest.

 

Wir alle von Amrum News gratulieren Friedrich Scheer ganz herzlich nachträglich zum Geburtstag!

 

 

Fotos: Kinka Tadsen, Undine Bischoff

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Über Undine Bischoff

Journalistin und Texterin. Fuhr mit drei Jahren zum ersten Mal über den Kniep – in einer Schubkarre. Weil ihr Vater da draußen eine Holzhütte baute, zwanzig Feriensommerjahre lang. Betextet Webseiten und Kataloge, schreibt für verschiedene Medien und natürlich für Amrum News.

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