Mehr Meer geht nicht…


Die Insel und das Meer: Seefahrt und Gesellschaft auf Amrum 1700 – 1860

Wenn man die 500 Seiten durch hat, dann dürfte man fit sein in Amrums Seefahrergeschichte. Dann weiß man, welchen Handelskompanien sich die Amrumer anschlossen, zum Beispiel der dänischen Westindisch-Guineischen, kennt die Familienschichten der Kapitäne, das Leben ihrer Frauen und die schönen Walfang-Fliesen in Christian Erichsens Haus in Nebel. Man weiß um die Netzwerke der Seeleute in Amsterdam, Altona, Hamburg und endlich mal, was jenseits der maritimen Oberschicht und durch Tod, Armut und Unehelichkeit auf der Insel passierte.

Immer nah am Meer: Martin Rheinheimer
Immer nah am Meer: Martin Rheinheimer

Was für ein Glück, kann man sagen, dass Amrum so klein ist und zur betreffenden Zeit, also 1700 – 1860, nur immer rund sechshundert Einwohner zählte. Föhr, sagt Martin Rheinheimer in seiner Einleitung, wäre in dieser Form nicht mehr zu bearbeiten gewesen. Für Rheinheimer, Historiker, promoviert und Professor für Maritim- und Regionalgeschichte an der Syddansk Universität in Odense muss Amrum so was wie eine gedankliche zweite Heimat sein. Bereits vier seiner Bücher haben die Insel im Focus. Was er nun vorlegt, ist das Ergebnis von zehn Jahren Forschung. Wer die Ehrfurcht vor so viel Wissen einfach mal beiseite schiebt und losblättert, ist schnell drin in seinen Geschichten. Bei vier Seiten Inhaltverzeichnis ist es leicht, dem persönlichen Interesse zu folgen. Die Kapitel sind kurz, mit gutem Einstieg. Und das aufwändige Orts- und Personenregister hilft beim Nachschlagen.

Das Buch erfüllt wissenschaftlichen Standard, aber Rheinheimer hat durchaus auch den normalen Leser im Blick behalten. “Ich wollte die Personen wirklich mit Leben füllen”, sagt Rheinheimer. “Und ich wollte zeigen, wie eine Seefahrergesellschaft funktioniert.” Im Gegensatz zur damals viel weiter verbreiteten Agrargesellschaft, in der sich Männer und Frauen zwischen Kindheit und Altenteil nie großartig voneinander entfernten und in deren Wirtschaft der Tauschhandel dominierte, war die maritime Gesellschaft der Inseln geprägt von der Trennung der Eheleute und dem Zwang, binnen eines recht kurzen Erwerbszeitraums genug Geld ranzuschaffen, damit es bis zum Lebensende reicht.

Rheinheimers Quellen sind zum Beispiel Kirchenbücher. Die waren für die Recherche der Geschlechterreihen ganz wichtig. “Dort findet man alle Personen, die auf Amrum gelebt haben”, sagt der Professor. Die Schuld- und Pfandprotokollen, die in den Landesarchiven von Apenrade und Schleswig liegen, zeigen die Besitzverhältnisse – Immobilienverkäufe und Erbteilungen. Wichtig auch die sogenannten Ummerkungsprotokolle, aus denen die Steuerschuld eines jeden Einwohners hervorgeht, alle fünf Jahre neu festgestellt. Über hundert Jahre Aufzeichnungen liegen im Archiv der Ferring-Stifung. “Eine einzigartige Quelle”, sagt Rheinheimer begeistert. Die Ausgaben der Armenkasse hat er genau so untersucht, wie die Zollrechnungen der Schiffe und Waren, Besatzungslisten, den Nachlass von Amrums Pastor Mechlenburg oder die Tagebücher des Lehrers Johann Martensen. Und natürlich finden sich auch die alten Grabsteine vom St.-Clemens in seinem Buch und viele Stiche, Porträts und Schiffsbilder, teilweise aus Privatbesitz.

Schon in den Auslagen...
Schon in den Auslagen…

Wenn Rheinheimer auf die Inseln fährt, dann als erstes ins Archiv der Ferring-Stiftung auf Föhr. Das Team um Leiter Volkert F. Faltings und Archivar Reinhard Jannen ist ein ständiger Quell an Quellen. Die Besuche auf Amrum gelten immer auch dem Inselchronisten Georg Quedens, seinem Bruder Jens vom Öömrang Ferian und der Schwester Ingeline Kanzler, die bei diesem Buch mit einer ordentlichen Spende dazu beigetragen haben, dass es so ansprechend gedruckt werden konnte und man gern reinschaut. Rheinheimer forscht über ein Vierteljahrhundert zu Amrums Geschichte, kehrt also auch immer in die alten Häuser ein, wo er reich mit Geschichten beschenkt wird, die wahrscheinlich nirgendwo geschrieben stehen.

Rheinheimers erstes Amrum-Buch war eine Biografie über Hark Olufs. Rheinheimer war damals, Mitte der 1990er Jahre, wissenschaftlicher Mitarbeiter und stieß in einer Bibliothek auf Hark Olufs’ Autobiografie. Er fand den Lebenslauf so interessant, dass er ihm nachstieg und 2001 ein Buch daraus machte – “Der fremde Sohn”. “Dann kam eins zum anderen”, sagt der 55-Jährige. Ein Buch über den Kojenmann 2007, eins über Hark Nickelsen, den Sklaven und Sklavenhändler und 2010 eins über die Geschlechterreihen auf Amrum. Soll heißen: Daten und kurze Biografien von allen Menschen die zwischen 1694 und 1918 auf Amrum gelebt haben.

Immer wieder interessant zu lesen, wenn Rheinheimer – mit hoch präzisen Angaben – den Mythos der “guten, alten Seefahrerzeit” zerlegt. Wo Frauen allein waren, und Männer wie die Fliegen starben. Spannend auch dies: Neunzig Prozent der Ehen wurden auf der Insel eingegangen, und nicht etwa in den großen (Hafen-)Städten, wo das Leben weiß Gott manchmal einfacher und abwechslungsreicher hätten sein können. Wie eine Gesellschaft imstande ist, Männer “zurückzuholen” und sie ein Leben lang an eine kleine Insel zu binden ist eine Frage, der sich Rheinheimer in seinem Buch auch widmet. “Der Druck von der Familie muss sehr stark gewesen sein”, sagt Rheinheimer. “Und natürlich gab es Rollenbilder und ein Das-war-schon-immer-so.”

Eins hat er vermisst beim Quellenstudium: Briefe der Seeleute nach Hause. Zeilen, die Aufschluss geben über die Gefühle der Männer auf See, fern von daheim. Nichts hat er gefunden. Auch Chronist Georg Quedens konnte mit Tipps nicht weiterhelfen. Dabei, das weiß man, schrieben Seeleute viel. Aber wenn die Briefe im Privatbesitz sind, dann sind die leider oft nach drei bis vier Generationen im Müll – wenn die alten Namen und Geschichten nicht lebendig gehalten werden.

 

Martin Rheinheimer: Die Insel und das Meer. Seefahrt und Gesellschaft auf Amrum 1700 – 1860 (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins). Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2016, 49 Euro.

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Über Undine Bischoff

Journalistin und Texterin. Fuhr mit drei Jahren zum ersten Mal über den Kniep – in einer Schubkarre. Weil ihr Vater da draußen eine Holzhütte baute, zwanzig Feriensommerjahre lang. Betextet Webseiten und Kataloge, schreibt für verschiedene Medien und natürlich für Amrum News.

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