Die Welt ist voller Flüchtlinge. Ganze Völkerschaften – angeblich insgesamt bis zu 60 Millionen – sind unterwegs, um aus ihren Heimatländern vor Kriegen, dem Religionswahn oder aus wirtschaftlichen Gründen zu flüchten und irgendwo, am liebsten in den geordneten Staaten Europas, Sicherheit und eine neue Existenz zu finden. Das Fernsehen und andere Medien sind täglich voll mit Berichten über diese Völkerwanderungen, die zahlreiche Menschen das Leben kostet. Internet, Facebook und wie die modernen Kommunikationsmittel der Gegenwart alle heißen, tragen das ihre dazu bei, zeigen sie doch in den schlecht regierten afrikanischen und asiatischen Ländern, dass es auch bessere Lebensformen in Europa und Nordamerika gibt.
Die Suche nach einem besseren Leben, das war vor kaum einem Menschenalter auch auf Amrum aktuell. Und wie wenige andere Regionen in Europa war die Insel (zusammen mit Föhr) ein sehr ausgeprägtes “Auswanderungsland”, verzeichnete aber fast gleichzeitig auch eine hohe Einwanderung.
Vertreibung durch den Staatswechsel
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Amrum eine Insel großer Ärmlichkeit. Walfang und Seefahrt hatten ihren früheren hohen Erwerbsrang verloren, und die meisten Inselmänner waren “Naturnutzer” durch Jagd und Fischfang im engeren Inselbereich und Tagelöhner für Gelegenheitsarbeiten. Die Landwirtschaft spielte nur eine untergeordnete Rolle und bot kaum Arbeitsplätze. Am meisten zu verdienen gab es bei Strandungsfällen durch die Bergelöhne für gerettete Schiffsgüter und wieder flottgemachte Schiffe.
Während aber im übrigen Europa Auswandererwellen nach Amerika verzeichnet wurden und z.B. Hamburger Reeder ganze Flotten von Auswandererschiffen bauten, darunter der Reeder Sloman den ersten Dampfer, geführt von dem Föhrer Kapitän Paul Nickels Paulsen, wurden auf Amrum zunächst nur wenige Auswanderer bekannt, und zwar Goldsucher mit dem Ziel Australien. Dies änderte sich dann aber nach dem Krieg zwischen Preußen/Österreich und Dänemark im Jahre 1864. Amrum, seit fast 1000 Jahren zu Dänemark gehörig, verlor im neuen Staat einige Privilegien. So wurde der Erlass des dänischen Königs aus dem Jahre 1735 “über die ewige Befreiung von Kriegsdiensten” gestrichen und plötzlich mussten die Amrumer (und Föhrer), die Flinten bisher nur zur Kaninchen- und Seehundsjagd geführt hatten, der strengen preußischen Militärpflicht Genüge tun.
Ebenso schlimm: Die lokalen Seefahrerschulen wurden geschlossen und die Seefahrer mussten fortan teuer und zeitraubend staatliche Seemannsschulen besuchen. Der Staatswechsel von Dänemark zu Preußen/Deutschland war für Amrum und Föhr eine Katastrophe. Die Jugend, die Zukunft, verließ die Heimatinseln, und es war zugleich der Anfang vom Ende des Friesentums.
Im Tagebuch des in Norddorf tätigen Lehrers Johann Martensen ist die Auswanderung mit Nennung aller Namen dokumentiert. Ab 1865 vergeht kein Jahr, kaum ein Monat, ohne Meldungen von Auswanderern – von Einzelpersonen, Frauen, die mit “Kind und Kegel” ihren Männern folgen und ganzen Familien. Erst in den 1880/90er Jahren, als im Deutschen Reich – insbesondere nach dem Krieg und dem Sieg über Frankreich (1870) eine Wohlstandszeit ausbrach, verminderte sich die Anzahl der Auswanderer. Aber da hatten schon an die 50% der Insulaner ihre Heimat – die meisten auf Nimmerwiedersehen – verlassen. Im Gefolge der beiden Weltkriege (1914 -1918 und 1939- 1945), als die wirtschaftliche Not im Deutschen Reich wieder groß war, gab es erneut Auswanderungswellen: von Amrum und Föhr nach Amerika, im letzteren Fall aber oft mit dem Ziel, in Amerika genügend Dollar zu verdienen, um in der Heimat eine Existenz aufzubauen, sei es einen Handwerksbetrieb oder eine Ferien-Pension. So standen der letzten Auswanderung zahlreiche Rückwanderer gegenüber. Von den nach 1945 ausgewanderten Amrumern sind 82 in Amerika geblieben, 47 sind zurückgekehrt.
Die Völkerwanderung der früheren Jahrhunderte wurde wie in der Gegenwart durch Kriege und wirtschaftliche Not ausgelöst. Aber die Aus- bzw. Einwanderung nach den USA wurde für Amrumer und Föhrer sehr begünstigt dadurch, dass es drüben zahlreiche Verwandte und Bekannte gab, die Wohnung und Arbeitsplätze besorgten und bereit waren, die zeitweilig von den US-Regierung geforderte “Bürgschaft” zu leisten, damit die Einwanderer nicht dem Staat zur Last fielen. Ohnehin gab es kein Sozialsystem – schon gar nicht eines, dass sich mit dem deutschen vergleichen ließ – das mittellose Einwanderer versorgen konnte. Dies widersprach auch völlig dem amerikanischen Lebensstil. Wären Einwanderer von Föhr und Amrum mit den heutigen Ansprüchen und Erwartungen der nach Europa ziehenden Asylsuchenden in Amerika gelandet, sie wären mit dem ersten Dampfer wieder zurückgeschickt worden! Ebensowenig hätte es eine von Asylideologen betriebene Diskussion um eine zunächst zentrale Kasernierung in Aufnahmezentren gegeben. Bei der Ankunft in Amerika wurden selbstverständlich alle Einwanderer zunächst auf Ellis Island außerhalb New Yorks untergebracht, wo die entsprechenden Kontrollen der Gesundheit und der sozialen Umstände durchgeführt wurden, ehe die Neuankömmlingen in Amerika an Land gelassen wurden.
Wie gesagt: Staatliche Unterstützung war ein ganz unbekanntes Wort. Aber die Amrumer (und Föhrer) “Wirtschaftsflüchtlinge” hatten den Vorteil der Verwandtenhilfe, der sprachlichen Nähe des Friesischen zum Englischen und natürlich gleichartiger Religion, deren Unterschiede ja heute in der Welt zu entsetzlichen Erscheinungen führen. Viele Amrumer (und Föhrer) arbeiteten in „Delis”, in Delikatessenläden, und hier war es nicht heimatlich-gemütlich. Gearbeitet wurde von morgens früh bis Mitternacht. Und nicht selten hatten die inselfriesischen Einwanderer in wenigen Jahren soviel Geld verdient, dass sie ein “Deli” kaufen und als Selbständige arbeiten konnten. Zahlreiche Amrumer Einwanderer waren aber auch in ihren handwerklichen Berufen beschäftigt und hatten hier das Glück, von einem 1925 ausgewanderten Amrumer, “Hanje” Boy Sörensen, unter die Fittiche genommen zu werden. Für einen gewissen Zusammenhalt sorgte der 1884 gegründete und heute noch bestehende “Föhr-Amrumer Krankenunterstützungs Verein” in New York.
Ausgewandert und heimgekehrt
Ein Beispiel für die Auswanderung und die Heimkehr ist z. B. das Ehepaar Ingeborg und Erk Tadsen aus Süddorf und Nebel. Erk, geboren 1939, hatte eine Zimmermannslehre absolviert, Ingeborg eine Höhere Handelsschule besucht. Nach der Verlobung wanderten beide 1962 nach Amerika aus und heirateten 1963 in New York. Hier arbeitete Erk in seinem Beruf auf verschiedenen Baustellen, so auch an der Georg-Washington-Brücke, die Manhatten mit New Jersey verbindet, während Ingeborg zunächst eine Anstellung in einem jüdischen Haushalt fand und später in das Büro einer TV-Gesellschaft und dann in eine Exportfirma wechselte. 1967 aber kaufte sich das Ehepaar Tadsen in New Jersey einen eigenen Store, den sie sieben Jahre lang betrieben und dann nebst Wohnhaus an Griechen verkauften.
1974 kehrten Ingeborg und Erk Tadsen mit den inzwischen geborenen Töchtern – die übrigens kein Wort Deutsch konnten – nach Amrum zurück, wo Erk noch seine Meisterprüfung machte, um sich als Zimmermeister selbständig zu machen – während die Ehefrau Ingeborg ganz groß in den Amrumer Fremdenverkehr einstieg, gleichzeitig aber noch neben Haus und Familie eine Arbeitsstelle bei der Raiffeisenbank besetzte. Und wenn Flaute auf dem Amrumer Baumarkt war baute Erk, Stein auf Stein, ein weiteres Haus …