Seit Mitte Februar wimmelt es auf Amrum, insbesondere in der Nordorfer Marsch, wieder von Wildgänsen, und zwar von allen drei Arten: Graugänse, Nonnengänse und Ringelgänse. Die letztgenannten machen auf der Insel aber nur eine Zwischenstation, denn ihre Brutplätze liegen auf den Felsen von Grönland und Spitzbergen sowie auf sibirischen Eismeerinseln, also noch Tausende Kilometer entfernt. Und sie werden bei uns bleiben, sofern die Wiesen schneefrei bleiben. Denn nur eine mehrere Zentimeter hohe Schneedecke verhindert die Nahrungsaufnahme der rein vegetarisch lebenden Wildgänse, so dass sie nach Schneefall wieder kurzfristig nach Südwesteuropa ausweichen würden. Andernfalls bleiben sie bis zum Abzug in die Brutgebiete bis Anfang/Mitte Mai bei uns auf der Insel – zur Freude der Naturfreunde und – beobachter, zum Ärger der Viehhalter unter den nur noch wenigen Landwirten auf Amrum. Denn die Mengen der Wildgänse und deren unglaubliche Vermehrung in einer Zeit, die andere Tierarten in deren Existenz bedroht, verursachen in der Landwirtschaft gebietsweise erhebliche Probleme. Dabei geht es nicht nur um die Reduzierung der Grasmenge für das Weidevieh, sondern auch um die großflächige Verkotung der Äsungsflächen. Erst im Juni und nach kräftigem Regen ist der Gänsekot verfallen. In den Niederlanden weiß man sich nicht anders zu helfen, als alle paar Jahre Tausende von Graugänsen und deren Nachwuchs in der flugunfähigen Mauserzeit zusammenzutreiben und zu vergasen. Denn ungeachtet der Jagdzeiten für die einheimischen Graugänse und der Erlaubnis, Gelege abzusammeln, um die Vermehrungsrate zu reduzieren – auf Amrum wurden allein im Norddorfer Revier in der Brutzeit 2016 fast 1000 Eier abgesammelt (und um diese Anzahl wurde dann auch die Nachwuchsmenge verringert, weil Gänse kein Nachgelege machen können), wimmelte es in der Brutzeit von Familien mit Jungen. Nur in der Vogelkoje Meerum hat sich die übermäßige Menge der Graugänse – früher über 20 Paare – auf 5 -6 Familien reduziert, weil dort keine ausreichende Äsung zu finden ist. Fast alle Graugänse, die auf Amrum gesichtet werden, zeigen sich schon als Paare und sind größtenteils schon seit Jahren miteinander “verheiratet“. Aber hier und da haben einige Paare noch die schon erwachsenen Jungen aus der vorjährigen Brutzeit bei sich, die allerdings in Kürze entlassen und von den Eltern vertrieben werden, um sich ein eigenes Revier zu suchen.
Die ungewöhnliche Vermehrung fast aller Wildgansarten, gefördert durch die intensive Betreuung des Nachwuchses durch Gans und Ganter, die in lebenslanger Einehe leben, die unkomplizierte Ernährung als Gras-, Samen – und Beerenfresser und eine hohe Lebenserwartung sowie eine ausgedehnte Jagdruhe in etlichen Ländern, haben diese Entwicklung begünstigt.
Seit den 1980er Jahren wurde die landwirtschaftliche Nutzung der vorgelagerten Salzwiesen, um die “Natur Natur sein zu lassen”, weitgehend eingeschränkt oder ganz aufgehoben. Man rechnete offenbar damit, dass sich auf den ungenutzen Salzwiesen eine blühende Natur mit einer großen Vielfalt von Salzpflanzen entfalten würde, vom Milchkraut am Boden bis zur hochwachsenden Strandaster.
Aber was geschah? Bald beherrschten einige wenige Salzpflanzen, nämlich Schlickgras, Andel und Strandquecke das Wiesengelände in derartiger Dominanz, dass alle anderen Salzpflanzen unterdrückt wurden und verschwanden. Zugleich aber verloren durch die halbmeterhohe Vegetation Säbler, Seeschwalben, Austernfischer u.a. ihre Brutplätze und alle Wildgänse ihre Nahrungsmöglichkeiten. Denn Wildgänse, ob groß oder gerade geschlüpft, benötigen zur Äsung die nur zentimeterhohe Vegetation.
Auf den Salzwiesen am Norddorfer Asphaltdeich, auf den schmalen Salzwiesenstreifen am Watt zwischen Norddorf und Nebel, die total unter Schilf verschwunden sind, und auf den Salzwiesen am Wattufer bei Nebel ist diese katastrophale Entwicklung zu sehen.
Und weil hier, wie auch andernorts (Deichvorland auf Föhr, Deichvorland Westerhever u.a), den Wildgänsen – gilt für alle Arten – quadratkilometerweise die Äsungsräume genommen wurden, haben sie sich zunehmend auf landwirtschaftliche Nutzflächen umgestellt und verursachen hier die entsprechenden Probleme.
Georg Quedens