Amrum in den ersten Monaten des Jahres 1945. Noch ist der 2. Weltkrieg in vollem Gang. Fast täglich ziehen über Amrum die alliierten Bomberflotten – am Tage die Amerikaner und nachts die Briten – bei ihrem Einflug zu Städten im Deutschen Reich, fast ungehindert, denn für die Flak auf Hörnum fliegen die feindlichen Flugzeuge zu hoch, und die deutsche Luftwaffe mit ihren MEs und Heinkel ist fast eliminiert und greift nur noch selten die Bomberflotten an.
Auf dem Gelände vor dem Seehospiz 4 in Norddorf, wo Soldaten der Wehrmacht untergebracht sind, ist die hier liegende Düne planiert und mit einem Exezierplatz versehen worden. Ein Oberst oder Feldwebel Dollfuß hat die Soldaten antreten lassen und verkündet als Tagesbefehl: “Die Insel wird verteidigt bis zum letzten Mann!” (Amrum, wie auch das benachbarte und schwer bewaffnete Sylt als Objekte einer Invasion zu planen, um dann hier festzusitzen – nur Militärs konnten auf diesen absurden Gedanken kommen!)
Der Krieg war für alle, auch für die auf Amrum recht zahlreich vertretenen Nazis, verloren, und die Zeichen dafür gingen nun fast alle an. Bislang war die Insel von unmittelbaren Kriegsereignissen weitgehend verschont geblieben. Aber am 27. Februar 1945 brachte der W.D.R.-Dampfer 800 Flüchtlinge aus dem deutschen Osten nach Amrum. Sie wurden auf die offenen Wagen der hiesigen Landwirte (Georg Köster, Boy Peters, Heinrich Schult und Ermin Martinen aus Norddorf, Martin Ermin Martinen aus Süddorf und Theodor Jensen und Philipp Meyer aus Nebel) gesetzt und über die Inseldörfer bei schneidendem Ostwind gefahren und auf die festlegten Quartiere verteilt. Diese Quartiere waren von den Bürgermeistern Haus um Haus durch persönlichen Augenschein ermittelt worden. Und auf Amrum gab es dank des Fremdenverkehres in Friedenszeiten in den meisten Häusern Quartiere für Kurgäste und nun für die Flüchtlinge.
Immer näher rückten die Fronten im Osten und Westen. Aber während im Westen niemand daran dachte, vor den Briten und Amerikanern davonzulaufen, machten sich im Osten Millionen Deutsche auf, um vor den Russen zu fliehen. Nicht ohne Grund! Im Osten waren während des Krieges in deutschem Namen und in deutschen Uniformen unvorstellbare Verbrechen begangen worden, die eine entsprechende Reaktion und Rache der Russen befürchten ließen. Tatsächlich mussten dann auch die Flüchtlinge aus Ostpreußen, aus Pommern und Schlesien für die nationalsozialistischen Untaten büßen.
Die Flüchtlinge im Februar 1945 blieben nicht die einzigen. So wie die Rote Armee vorrückte, folgten weitere, auch nach Amrum. Und noch nach Kriegsende, bis 1946, folgten Heimatvertriebene aus dem nun verlorenen deutschen Osten. Schließlich gab es auf Amrum mit 1640 Flüchtlingen und Vertriebenen mehr als die 1240 Einheimischen, die 1945/46 auf der Insel gezählt wurden.
Geflüchtet bis nach Amrum
Zu den Familien, die vor den Russen nach Westen flüchteten und letztlich ihre Heimat verloren, gehörte auch die Familie Frieda und Paul Grönda mit ihren acht Kindern. Zuhause in Trossen nahe Lötzen (heute polnisch Gizycko) an einem masurischen See, flüchteten sie im Januar bei 20 Grad Minus zu Fuß und mit Fuhrwerken an die Ostseeküste nach Gotenhafen, wo sich der Vater befand. Aber dann wurde die mitgebrachte Großmutter krank und transportunfähig, und die Mutter flüchtete mit drei Kindern mit einem noch fahrenden Zug nach Rügen, während der Vater und die anderen Kinder nebst der Oma zurückfuhren. Dort waren aber inzwischen die Russen und Polen, die den Deutschen freistellten, nach Westen auszureisen. Frieda Grönda war inzwischen mit drei Kindern weitergebracht und landete zusammen mit anderen Flüchtlingen schließlich auf Amrum. Als Quartier wurde ihr das Haus von Leonore und Johannes Cöster in Norddorf zugeteilt. Das Ehepaar hatte lange in den USA, in New York gelebt, war dann aber mit der 1929 geborenen Tochter Alice auf die Heimatinsel zurückgekehrt und hatte um 1938/39 auf einer Düne am westlichen Dorfrand ein nobles Haus als Fremdenpension gebaut. Es war aber noch nicht ganz fertig, als der Krieg ausbrach, und so konnte das Haus (Pension “Zur Heimat”) erst 1948 vollendet werden. Immerhin waren schon zwei Zimmer im Dachgeschoss ausgebaut, und hier wurde Frieda Grönda mit den Kindern Erika, Marianne und Helmut einquartiert. Aber wo war der Vater mit den anderen vier noch lebenden Kindern (der älteste Sohn Alfred war im Krieg gefallen)?Viele Flüchtlinge suchten damals nach Angehörigen, die in den Wirren des Krieges und der Flucht verloren gegangen waren. Das Rote Kreuz baute bald nach Kriegsende einen umfangreichen “Suchdienst” auf, und nach zweijährigem Bemühen wurde der Rest der Familien Grönda in Mecklenburg-Pommern entdeckt, so dass im Jahre 1947 alle wieder vereint waren.
Aber nun waren für die Familie mit 7 Kindern die zwei Zimmer im Hause Cöster viel zu klein, und als Ausweg bot sich im mit Flüchtlingen und Vertriebenen überbevölkerten Norddorf nur noch der ehemalige Bootsschuppen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger an. Diese Station war im Jahre 1876 weitab des Dorfes nahe dem Inselbogen Hörn errichtet worden, und zwar an der Strandkante von “Batjes Stich”. 5000 Mark, damals eine beachtliche Summe, wendete die DGzRS für diese Station aus Ziegelsteinmauern auf und versah die Station “Kniephaven” auch mit einer Feuerstelle, damit die oft halbtot geborgenen Schiffbrüchigen an den warmen Ofen gesetzt und versorgt werden konnten. Auf einem Ablaufwagen lag ein Ruderrettungsboot namens “Theodor Preußer”, das im Seenotfall auf eine Art Doppelgeleis zu Wasser gebracht wurde. Aber von Süden drängten riesige Sandmassen heran, und die Station musste im Jahre 1888 aufgegeben und nach Norden verlegt werden.
Der nun leere Schuppen diente dann sozusagen als “Armenhaus”, als von 1918 bis 1930 die nach Amrum eingewanderte Familie des Malermeisters Johannsen hier untergebracht war. In der Erinnerung der Familie Grönda bestand der Innenraum aus drei Räumen, darin ein Ofen und eine Küche mit Herd. Für Trinkwasser sorgte ein Brunnen neben dem Haus mit einem Schwengel.
Vom Dorfe aus gesehen war der Rettungsbootschuppen “Batjes Stich” das Ende der Welt und das Wohnen dort eine Art Verbannung. Aber nach den Erzählungen und in der Rückschau hat es die Familie Grönda so nicht empfunden. Natürlich war es für alle Besorgungen immer ein langer Weg durch die Dünen bis nach Norddorf und nicht zuletzt auch für die Kinder ein langer Schulweg, im Sommer durch die Dünenhitze, im Herbst und Winter durch die Witterung. Die Schule war in den ersten Nachkriegsjahren allerdings eine Katastrophe. Die Schülerzahl hatte sich mehr als verdreifacht, und der Schulraum (heute Gemeinde- und Kurverwaltung) war viel zu klein. Im Gemeindehaus und im Missionshaus (heute Heck-Schau) sowie im “Seeheim” wurden zusätzliche Klassenräume eingerichtet. Aber es gab kaum Lehrer. Die alten Lehrer mussten erst “entnazifiziert” werden, und vor den Riesenklassen standen Schulhelferinnen, die Jungmädchen des ehemaligen Bürgermeisters Paulsen (Marianne) und des Lehrers Wanner (Ingeborg), die gerade erst ihr Abitur gemacht hatten.
Schulspeisung und Möweneier
Die Ernährungssituation im zerstörten Deutschen Reich konnte die Siegermächte nicht unberührt lassen, und trotz der sich nun offenbarten Schrecken des Naziregimes bildeten sich in den USA, in England und im neutralen Schweden Organisationen für eine Nahrungsmittelversorgung der deutschen Bevölkerung. Für die Schulkinder wurde von 1946 bis 1949 eine “Schulspeisung” mit zweimal wöchentlicher warmer Mahlzeit eingerichtet, die sich auf Amrum allerdings nur auf die Flüchtlingskinder bezog (oder nahmen Amrumer Schüler von sich aus nicht daran teil, weil sie zu Hause noch ausreichend versorgt wurden?).
Im Übrigen aber lebten die Grönda-Kinder inmitten der Inselnatur, in unmittelbarer Nähe zu den Möwenkolonien und den Brutplätzen der Eiderenten, so dass im Frühling an frischen Eiern kein Mangel war. Es wurden aber auch “Huker”, lange Schnüre mit beköderten Angelhaken, zum Fang von Schollen und anderen Fischen ausgelegt. Und eines Tages fand Helmut einen Schinken, der große Aufregung im Dorf verursachte. Es waren nämlich etliche aus der Schlachterei von Nanning Schult gestohlen worden, und natürlich fiel der Verdacht auf die hungernden Flüchtlinge. Erst später kam ein anderer Verdacht auf, nämlich dass die Schinken – um die strengen Kontrollen gegen “Schwarzschlachtungen” zu umgehen – von der Schlachterei selbst versteckt worden waren. Der Fall wurde nie aufgeklärt.
Etliche Flüchtlingsfamilien verdienten sich Geld beim Auspulen von Krabben, die von Büsumer Krabbenfischern, die zu Hunderten im Seezeichenhafen einliefen, sowohl in Wittdün als auch in Norddorf angeliefert wurden. Zahlreiche Flüchtlinge wanderten auch bei Ebbe über das Watt nach Föhr, um zu “hamstern” oder durch Arbeit bei den dortigen Bauern Nahrungsmittel zu verdienen. Dabei wurden die Gezeiten nicht immer beachtet, und am 18. September 1946 kamen der 34jährige Ernst Nickel und am 25. Oktober 1947 der 15jährige Arnold Roland ums Leben. Von beiden sind die Grabsteine auf dem Neuen Friedhof noch vorhanden.
Zu den “Föhrläufern” gehörte auch Vater Grönda mit dem ältesten Sohn. Holz zum Heizen und Schuppenbauen wurde am Strande direkt vor Batjes Stich gefunden. Und eines Tages war der Strand voller Apfelsinen.
Der Vater als Bastlergenie
Im Übrigen war der Vater Paul ein Organisationstalent und Bastlergenie. Damals lag vor “Batjes Stich” noch ein metertiefer See, der Rest des früheren Kniephafens, “Ialsteed”, Aalstelle genannt, weil hier im Herbst Aale aus der Nordsee über die Fläche des Kniepsandes einwanderten, um dort zu überwintern. Bei Frost standen dann Insulaner mit “Elger” auf dem Eis und stocherten durch Löcher den Boden der Aalkuhle ab, um die im Sand schlafenden Aale aufzuspießen.
Vater Paul hatte am Strand und auf dem Kniep etliche Blechtrümmer eines am 9. August 1942 abgeschossenen amerikanischen Bombers entdeckt und bastelte daraus eine Art Boot, mit dem die Grönda-Kinder auf der Aalkuhle spielten. Aber er bastelte auch verschiedene Gebrauchsgegenstände aus dem Flugzeugblech. Eine Zeitlang war er in Norddorf bei dem Arzt Dr. Herdt angestellt und errichtete auf dessen Anordnung einen hohen Wall aus Heide- und Grassoden zum Nachbargrundstück des Landwirtes Hein Bäcker, Heinrich Schult. Und ebenso dürfte ein Schuppen bzw. Schafstall aus Heidesoden von Paul Grönda gebaut worden sein (Sodenwände waren übrigens auch im mittelalterlichen Amrum und bei den Wikingern auf Island und Grönland zu finden).
Neue Heimat im Südwesten
Die zahlreichen Flüchtlinge auf Amrum waren für die Insulaner ein großes Problem. Es gab auf der Insel nur wenig Arbeit für so viele Menschen, und es entstanden zunehmend Spannungen mit den Einheimischen. Denn auch diesen waren die Verdienstmöglichkeiten genommen. Der Fremdenverkehr begann sich wieder zart zu regen, aber die Gästezimmer waren in fast allen Häusern mit Flüchtlingen und Heimatvertriebenen belegt! Es wurde dann “höheren Orts” ein umfangreiches Umsiedelungsprojekt in Gang gesetzt, mit den Zielen Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Südwestdeutschland, wo es überall auch Arbeitsplätze gab.
Im August 1949 verließ im Zuge dieser Maßnahmen auch die Familie Grönda ihre “Dünenvilla” . Eine ältere Tochter war schon vorher als Krankenschwester nach Hamburg gereist, und die übrigen Gröndas landeten in Mähringen bei Tübingen. Hier gab es vor allem in der Textilbranche Arbeit, und hier konnte 1959 ein eigenes Haus gebaut werden. In der neuen Heimat ist der Vater Paul 1975 gestorben, aber die Mutter Frieda lebte noch bis 1999. Sie wurde, ungeachtet der Sorgen und Nöte der Flüchtlingsjahre 95 Jahre alt!
Kinder und Enkelkinder der Familie sind aber unverändert mit Amrum verbunden und besuchen “ihre” Insel seit einem halben Jahrhundert als Sommergäste. Aber ihre damalige Unterkunft, die Dünenvilla Batjes Stich, gibt es nicht mehr. Sie wurde nachfolgend Jugendfreizeitheim und Strandkorbschuppen. Und verschwand schließlich einplaniert unter Dünen.