Auf Amrum ist die Natur – vor allem geprägt durch die Vogelwelt -aus dem Winterschlaf erwacht. Wer am Rande der Norddorfer Marsch, zur Vogelkoje Meerum, an den Wanderwegen von Guskölk bei Süddorf, durch die Wittdüner Marsch oder am Stranddünensee Wriakhörn wandert, beobachtet dort Hunderte Graugänse, die paarweise beieinander stehen oder mit lautem “Trara” über Dörfer und Landschaften zu ihren Brutplätzen fliegen.
Sogar überall auf der hohen Feldmark, weit entfernt vom Wasser, sitzen Graugans-Paare und vermitteln die Dichte und das weitere Anwachsen der Graugans-Population auf Amrum. Schon seit Mitte März sitzen zahlreiche Gänse auf ihren großen, grauweissen Eiern im Gelände, oft auch an ganz gänse-untypischen Plätzen, wohin die klugen Gänse ausgewichen sind, nachdem ihnen andernorts die Gelege zerstört wurden. Gänse haben in der Natur selbst allerdings kaum Feinde. Selbst Rabenkrähen haben es – bis auf Ausnahmen – bis heute nicht gelernt, die harten Schalen der Eier zu knacken.
Aber seit Jahren schon werden etliche Gelege durch Landwirte vernichtet, die sich gegen die Übervermehrung der Graugänse nicht anders zu wehren wissen. Und seit 2015 dürfen mit Erlaubnis der Naturschutzbehörden auch die Amrumer Jagdpächter Graugans-Eier absammeln (im Bereich Norddorf 2015 um die 600!), um die Vermehrung der Graugänse in Grenzen zu halten. In Holland ist man robuster. Dort werden alle paar Jahre in der Mauserzeit im Juli einige tausend Jung- und Altvögel, die um diese Zeit noch flugunfähig sind, zusammengetrieben und vergast, im Jahre 2015 etwa 3000 Wildgänse – zu den Mengen der Graugänse kommen dann noch in den Frühlingsmonaten Scharen der Ringelgänse und auf Amrum seit 2015 einige hundert Nonnengänse – können in der Landwirtschaft erhebliche Schäden anrichten, und zwar sowohl auf Getreidesaaten wie auch auf Weideland. Dabei ist das Problem nicht nur das Abfressen (Äsen) der Vegetation, sondern auch die intensive Verkotung der Flächen, die nur eine beschränkte Beweidung zulassen.
Deshalb mussten die Amrumer Landwirte ihren Viehbestand schon erheblich reduzieren – eine große Gefahr auch für die Gänse selbst. Denn wo keine Landwirtschaft betrieben, also durch Beweidung oder Mahd die Grasnarbe kurz gehalten wird, können auch keine Gänse mehr leben, weil diese zum Äsen für sich und ihre Jungen ganz kurzes Gras benötigen! Die Graugans ist vielerorts in Westeuropa dank ihrer Vermehrung zu einem Problemvogel geworden, der sich – wie erwähnt – durch Jagd (Jagdzeit vom 1. August bis 31. Januar) kaum noch regulieren lässt.
Diese Entwicklung ist höchst erstaunlich. Denn noch vor etwa 50 Jahren war die Graugans ein Vogel des Ostens und kam westlich der Elbe kaum vor, dann aber wurde die Graugans wegen ihrer leichten Haltung als Vegetarier mancherorts durch Naturfreunde, Jäger und Ziergeflügelzüchter ausgesetzt und hat sich dann ganz schnell vermehrt. Auf Amrum erfolgte die Einbürgerung über einen Vogelwart (Reiner Schopf) des Rantum-Beckens auf Sylt und mit Hilfe eines Amrumer Kaufmannes zunächst als Touristenattraktion in der Vogelkoje Meerum, wo sich zwei Paare bildeten, die nach der bei Graugänsen “vorgeschrieenbenen” Verlobungszeit – ab 1973/74 zu brüten begannen und einmal 4 und einmal 5 Gössel/großzogen. Aus diesen 9 Gösseln haben sich bis dato einige tausend Graugänse entwickelt, die über Amrum hinaus (z.B. auf Föhr) Graugans-Populationen gebildet haben. Vier weitere Gänse wurden dann durch einen Norddorfer Bauernsohn in der Marsch ausgesetzt, die für weitere Vermehrung sorgten. Ebenso erfolgreich war die Aussetzung von Graugänsen durch den Schleswig-Holsteinischen Jagdverband im Gelände des Hauke-Haien-Kooges auf dem Festland. In unglaublich kurzer Zeit verbreitete sich die Graugans dann über ganz West- und Nordeuropa.
Der Erfolg der Vermehrung wird auch durch die Lebensweise dieser klugen Vögel begünstigt. Graugänse bleiben auch nach dem Flüggewerden noch den ganzen Winter hindurch bei ihren Eltern und müssen erst im folgenden Frühjahr die Familie verlassen. Im Alter von zwei, drei Jahren begründen Graugänse dann eine eigene Familie, und zwar nach fast “menschlichen” Maßstäben. Der festen Verpaarung” geht nämlich eine “Verlobungszeit” voraus, in der es auch zur Kopulation (immer im Wasser), aber nicht zur Eiablage und Brut kommt. Dies geschieht erst im folgenden Jahr. Die Gans brütet allein, aber der Ganter wacht oft in der Nähe und kann auch sehr tapfer und energisch, sogar gegen Füchse,agieren, wenn diese dem Brutplatz zu nahe kommen. Nach dem Schlüpfen werden die Gössel im typischen Geleitzug, vorn die Gans, hinten der Ganter, zum Wasser und zu Wiesen geführt, wo der Nachwuchs, von beiden Eltern betreut, heranwächst. Diese doppelte Betreuung ist eine Ursache dafür, dass die Gössel einer Brut mit 4-6 Eiern auch fast alle erwachsen und flügge werden (bei Stockenten oder Fasanen mit 11 – 16 Eier erreichen selten mehr als zwei, drei das Erwachsenenalter). Die Größe der Gans schützt sie vor den meisten Feinden (Raubwild, Greifvögel) in der Natur. Und Gänse erreichen ein Lebensalter von 25 – 30 Jahren. Verpaarte Graugänse bleiben lebenslang miteinander verbunden – jedenfalls ist die Scheidungsrate wesentlich geringer als beim Menschen .
Georg Quedens