“Das Eiersuchen ist ein kleiner Nahrungszweig der Amrumer. Man steht um 2 oder 3 Uhr morgens auf zur Eierjagd, denn die Kunst des Findens will gelernt sein. Die Kubben (Silbermöwen) legen 3 Eier, gewöhnlich auf hohen Dünen und landeinwärts, die Mewen (Sturmmöwen) an den Rändern und niedrigen Dünen nahe des Strandes. Noch viele andere Vogelarten legen Eier auf unserer Insel… ab Anfang April die Liapen (Kiebitze), dann die Kleeren (Rotschenkel) und die Walskhannen (Kampfläufer), dann die Bakkern und Staernken (Küsten- und Zwergseeschwalben)… Die Liiwen (Austernfischer) legen drei Eier, die Huuchsternken (Brandseeschwalben) mehrere … die wilden Enten (Stockenten) viele, bis 15 in langen verdorrten Halmen (des Strandhafers), die Bergente (Brandgans) in Kaninchenhöhlen 15 – 20… Die Bakker legen drei Bruten (nach Wegnahme der ersten), ebenfalls der Kiebitz… Diese Kunde stammt aus meiner Knabenzeit”, schrieb der in Norddorf geborene Historiker Knudt Jungbohn Clement (1803 – 1873) in seiner “Lebens- und Leidensgeschichte der Frisen” im Jahre 1845.
In der Amrumer Vogelwelt hat sich seit Clements Zeiten einiges verändert. Kampfläufer und Brandseeschwalben sind als Brutvögel von Amrum verschwunden, andere, deren Eier ebenfalls die Eiersammler im Frühsommer in Bewegung brachten (Lachmöwen, Eiderenten, Graugänse) hinzugekommen. Und unverändert eilen auch heute noch Insulaner durch das Dünengelände, um Möwen- und Grauganseier zu suchen, obwohl dies seit Ende der 1980er durch eine EG-Verordnung verboten ist. Die deutsche Jagdgesetzgebung passte sich an, und im Bundesjagdgesetz vom 28. Juni 1990 ist das Eiersammeln auf die Jagdpächter beschränkt, die auf Amrum neben Möweneier seit einigen Jahren auch Grauganseier sammeln dürfen bzw. müssen, um die dramatische Übervermehrung der Graugänse in Grenzen zu halten.
Entgegen dem Hinweis von Clement, dass das Eiersammeln ein “kleiner Nahrungszweig” der Insulaner war, hatte das Eiersammeln für die Ernährung der Inselbevölkerung zeitweise eine große Bedeutung. Naturschutz und das Gefühl für die Bewahrung der Natur waren auf der Insel ganz unbekannt. Es ging einfach darum, satt zu werden, und dazu leisteten die Gelege der Seevögel einen beachtlichen Beitrag.
Gesammelt wurden die Eier von allen Vogelarten, beginnend im April mit den wohlschmeckenden Kiebitzeiern (der Reichskanzler Bismarck erhielt übrigens zu seinem Geburtstag am 1. April 100 Kiebitzeier, gesammelt von den “Getreuen” aus Jever in der ostfriesischen Marsch).
Wenig später, ab Anfang Mai, waren dann die Gelege von Rotschenkel und Austernfischer zu finden, und dann ging es hinauf in die Inseldünen, wo Sturm- und Silbermöwen nisteten. Etliche Eiersammler hatten sich auch mit dem “Beraganstook” bewaffnet, einem biegsamen Bambus- oder Rattanstab mit einer Verlängerung aus zwei zusammengedrehten Drähten, dessen Ende zu einer Eiform gebogen war. Mit diesem Stab “angelte” man hinein in Kaninchenhöhlen, wo Brandgänse ihre Gelege hatten, die oft bis zu 15 und mehr Eier enthielten. Manche Insulaner hatten auch in Erdwällen und Hügel nahe dem Wattufer künstliche Höhlen angelegt, dessen Ende mit einer Grasssode verschlossen war. Diese konnte abgenommen werden, um das Brandgansgelege zu entnehmen. In seinem Buch “Der Kojenmann” wundert sich der Regionalforscher M. Rheinheimer über die Menge der “Bergenteneier”, die der Kojenmann Cornelius Peters alljährlich in seiner Gesamteiersammlung hatte. Natürlich hatte Cornelius als Wärter in der Vogelkoje Meerum die Kojenwälle voller künstlicher Höhlen, um dort die Brandgänse zum Eierlegen zu animieren.
Zum Eiersammeln segelten die Amrumer aber auch hinüber nach Hörnum, das bis um 1900 völlig unbesiedelt war und wo Tausende Möwen nisteten. So heißt es z. B. unter dem Datum vom 25. Mai 1873 im Tagebuch von Cornelius Peters, “Nach Hörnum, zurück mit 50 Möweneiern”. Hörnum erhielt ständigen Besuch von Amrumern, zum Ärger der Rantumer, zu deren Gemeinde Hörnum gehörte. Denn die Amrumer sammelten nicht nur Möweneier, sondern entführten auch manch wertvolles Strandgut, so dass sie auf der Nachbarinsel bei ihren Sylter Landsleuten über Jahrhunderte sehr unbeliebt waren.
Die Beziehung zu Hörnum fand auch ihren Ausdruck in einem Theaterspiel, “Kubaiersaamlin üüb Hörnam”, das in den 1920er Jahren vom Friesenverein in Norddorf aufgeführt wurde.
Im Jahre 1901 wurde die Sylter Südspitze jedoch durch eine Seebäderlinie von Hamburg und vor allem durch die Südbahn Hörnum – Westerland “erschlossen”. Scharen von Sylter Eiersammlern – die noch verrückter waren als die Amrumer – konnten nun mit der Bahn Hörnum erreichen (vorher fast 20km von Westerland, 14km von Rantum entfernt).
Scharen von Eiersammlern bedrohten nun die Seevogelkolonien auf Hörnum. Aber auch auf Amrum “wird das Eiersammeln höchst unvernünftig betrieben”, bemerkte der Husumer Gymnasiallehrer Joachim Rohweder, als er auf einer ornithologischen Rundreise Anfang Juni 1886 Amrum besuchte. “Nicht weniger als 12 Menschen, Männer, Frauen und Kinder machten sich ein Pfingstvergnügen daraus, in den Norderdünen (Odde) umherzulaufen und Seeschwalbeneier zu sammeln…”
Das Hin und Her der Möwen
Möwen sind, wie viele Seevögel, Koloniebrüter, die bei anhaltender Störung ihr Brutgebiet von einem zum anderen Tag wechseln. Und das ist offenbar auch mit den Amrumer Möwen angesichts des rücksichtlosen Eiersammelns geschehen. Jedenfalls war – zumindest in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts – die Insel von Möwen verlassen, und die Inseldünen wurden nach Aussage älterer Insulaner von den Kolonien der “Bakker”, der Küstenseeschwalben, beherrscht. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts kehrten sie – offenbar nun von Sylter Eiersammlern von Hörnum vertrieben – nach Amrum zurück. Der Gewährsmann Anton Peters erinnert sich genau, erst 1906 wieder ein Möwenei auf Amrum gefunden zu haben. Jahrzehnte später waren die Amrumer Dünen dann wieder von Silbermöwen und in geringer Anzahl von Sturmmöwen besiedelt. Das Eiersammeln blieb unverändert beliebt, aber durch den Fremdenverkehr hatten die Amrumer nun eine bessere Erwerbsgrundlage gefunden, mussten sich um ihre Badegäste kümmern und konnten nicht mehr zeitlos durch das Gelände streifen.
Naturschutzgesetze waren in früheren Jahrzehnten nahezu unbekannt oder ganz unzureichend. Deshalb bildeten sich in Hamburg und andernorts Naturschutzvereine, die nunmehr versuchten, die Seevogelwelt auf den Nordseeinseln zu bewahren. In Hamburg entstand der Verein Jordsand, der 1907 die unbewohnte Hallig Jordsand im Watt östlich von Sylt und die 1909 gekaufte Hallig Norderoog unter Naturschutz stellte. Ähnliche Initiativen folgten an der ostfriesischen Küste (Mellum, Memmert). Möwen galten allerdings als “Räuber” (was sie in gewisser Weise auch sind), die anderen Seevögeln Eier und Jungvögel raubten und deren Artbestand gefährdeten. Deshalb galt das Möweneiersammeln in Kreisen der Insulaner, zunächst aber auch noch bei Naturschutzvereinen, als eine Art “Naturschutz”. Erst in der Nazizeit erfolgte eine gewisse Regulierung, und ab 1934 beschränkte sich das Möweneiersammelrecht auf die jeweiligen Jagdpächter (in Norddorf Friedrich Wilhelm Peters, genannt Fidje Wimme). Diese durften aber gegen eine geringe Gebühr “Sammelscheine” ausstellen, was sie auch reichlich taten. Denn wie gesagt: Möwen galten als Räuber.
Aber ungeachtet wechselner Anschauungen sammelten die Insulaner nach eigenem Belieben, insbesondere in den Jahren der Nahrungsnot nach dem 2. Weltkrieg, als auf Amrum zugleich ebensoviele Ostflüchtlinge zu versorgen waren wie Einheimische. Jahrelang gab es keinen Nachwuchs mehr, und kurz entschlossen siedelten die Möwen wieder einmal um. Sie zogen geschlossen aus den Amrumer Dünen (heutiges NSG) zur Odde, wo sie aber wegen der Gefährdung der dortigen Seeschwalbenkolonien höchst unerwünscht waren und mit teils absurden Methoden bekämpft wurden.
Zunächst versuchte man, auf traditionelle Weise der Möwen Herr zu werden. Angestellte der Gemeinde Norddorf sammelten eimerweise Möweneier und boten diese in der Kurverwaltung Norddorf zum Verkauf. Ebenso wurden Kinderheime, die Satteldüne u. a. mit Eiern beliefert. Dann wurden die bebrüteten Eier angestochen, aber trotzdem schlüpften Junge daraus. Später wurden die Eier mit einer Giftmischung besprüht, und zuletzt wurden die brütenden Altvögel auf dem Nest mittels Chloralose-Tabletten vergiftet – bis man dann Anfang der 1960er Jahre herausfand, dass für die Verluste und das Verschwinden der großen Seeschwalbenkolonien auf der Odde nicht die Möwen, sondern Igel die Ursache waren. Sie fraßen Eier und Jungvögel und verbreiteten bei ihrem nächtlichen Herumstreifen Panik in den Kolonien.
Aber es änderte sich auch die Philosophie des Naturschutzes. Seit 1990 sollen a l l e Vogelgelege geschont werden, nicht nur von Möwen, sondern auch z. B. von Rabenvögeln. Den Möwen schadet das Eiersammeln übrigens kaum. Sie machen ein zweites Gelege und können bei Verlust desselben auch noch ein drittes machen!
Unabhängig aber von Gesetzen und wechselnden Naturschutz-Ideologien sind etliche Amrumer im Mai unterwegs, um Möweneier zu sammeln, wobei beim Suchen und Sammeln wesentliche Triebe, nämlich Jagdleidenschaft und Beutetrieb befriedigt werden. Und damit man nicht den herzhaften Geschmack des Möweneies verliert.
Ein Kuriosum am Rande: Fuhren Amrumer früher zum Eiersammeln hinüber nach Sylt, kommen heute Sylter nach Amrum, um ganze Körbe und Eimer voll zu sammeln, die auf der Nachbarinsel vermutlich in der Gastronomie verwertet werden. Auf Sylt gibt es nämlich nichts mehr zu sammeln, und vor allem die über den Hindenburgdamm eingewanderten Füchse haben Tabula Rasa gemacht und sämtliche Seevogelkolonien auf der einst vogelreichsten Nordseeinsel vernichtet.
Georg Quedens