Der “Klingelmann” Hanje Lassen


Bundestagsdebatte in Berlin. Die Fernsehkamera schweift über die Sitzreihen der Abgeordneten und erfasst, dass jeder vierte, fünfte Abgeordnete mit einem Smartphone hantiert und vom Display Nachrichten liest oder eintippt. – Ein klassisches Konzert in einem Konzertsaal. Gerade lassen die Violinen den zweiten Satz von Sibelius’ “Karelien” ausklingen, als sich im Publikum ein unüberhörbarer Handy-Anruf einmischt und die Konzertbesucher aus den Gefilden der nordischen Landschaft in die nüchterne Gegenwart zurückruft. Oder eine Familienfeier in New York, nur Minuten später auf einem Display auch auf Amrum auf einem Leuchtbild zu erleben, verbunden mit den Grüßen von den fernen Angehörigen. Ein gewaltiger, fast unglaublicher Fortschritt in den wenigen letzten Jahren und in etlichen Bereichen des Lebens unentbehrlich geworden. Aber die fast totale Kommunikation hat auch “unmenschliche” Züge. Es ist kaum ein halbes Jahrhundert her, da ging es in der Welt und auf Amrum noch gemütlicher zu. Für die kommunalen Ereignisse war der “Insel-Bote”, die Föhr-Amrumer Tageszeichnung, zuständig. Aber die Ereignisse des Insellebens wurden – wenn überhaupt – erst mit wochenlanger Verspätung gedruckt – mit Ausnahme von Todes- und anderen Familienanzeigen.

Der Klingelmann “Hanje” Lassen in Aktion

War auf der Insel aber etwas “brandeilig”, dann wurde “Hanje” Lassen losgeschickt. Johannes, geboren am 9. August 1894 in Nebel als eines der acht Kinder des aus Tönning eingewanderten Zimmermannes Heinrich Christian Lassen und seiner Frau Mathilde, geb. Bertelsen aus Nebel, war eine schlichte Gestalt und blieb zeitlebens Arbeitsmann, aber eine originelle Seele. Er beschäftigte sich als Fischer an Bord bei seinem Schwiegervater Wilhelm Nickel (wie etliche andere als Fischer von Blankenese nach Amrum eingewandert), war Kellner in den damaligen Sälen der “Erholung” und des “Bahnhofshotels” und zuletzt im Auftrag der Kurverwaltungen Nebel und Norddorf Betreuer bzw. Wärter in der Vogelkoje “Meerum”, aber nicht, um Enten zu gringeln, sondern die Anlage als Anschauungsobjekt für Kurgäste zu betreuen. Irgendwann schlug dann auch seine Stunde als “Ausklingler” auf Amrum. Wenn eine Nachricht brandeilig war, wurde “Hanje” mit seinem Fahrrad losgeschickt, platzierte sich in den Dörfern auf den Straßen, klingelte zunächst die Leute aus ihren Häusern und las dann mit lauter Stimme die Botschaft vor. Mal ging es um Sonderfahrten einheimischer Schiffer zu den Halligen oder den Seehundsbänken, mal um das Programm im Kinosaal, den der Föhrer Ketelsen bald nach Ende des 2. Weltkrieges am westlichen Ortsrand von Nebel erbaut hatte. Dann wieder hatten die Gemeinden ihren Bürgern etwas zu verkünden, dann die Kirche der Gemeinde etwas zu sagen. Und so ging es dann “Klingeling klingeling” durch die Dörfer, alle paar Hundert Meter die Meldung ausgerufen.

“Hanje” hatte eine kräftige Stimme, war aber, wie gesagt, von etwas schlichtem Gemüt. Deshalb war es auch nicht angebracht, ihn mit Botschaften loszuschicken, die akademische Begriffe oder Fremdwörter enthielten. Beispielsweise verkündete er einmal einen neuen Film im Kinosaal Nebel: “Die Töchter des Samurai”. Aber für Johannes Lassen waren die Angehörigen der japanischen Rittergilde ein unbekannter Begriff. “Samurai, wat is dat?” Und so geriet der Ausruf auch aus dem Ruder: “Die Töchter des Samorra” verkündete Hanje in allen Inseldörfern. Aber auch das kleine Einmaleins gehörte nicht zu seinen Stärken. Häufig waren eilige Aufträge von Ausflugstouren zu übermitteln, und Johannes verkündete: “Heute Nachmittag, 13 Uhr, Mole Steenodde, Ausflugsfahrt nach Hallig Hooge. Fahrpreis vier Mark, Kinder die Hälfte, zwei Mark fünfzig”. Aber für Notfälle war der Ausklingler unentbehrlich. Einmal hatte ein Kurgast seine Hose “verbummelt”, darin die Fahrkarten für die Abreise am späten Nachmittag. Allerhöchste Eile war geboten, und Hanje machte sich mit seiner Klingel auf den Weg. Tatsächlich gelang es dann auch, das Corpus delicti rechtzeitig aufzutreiben – und Kurgäste und Insulaner hatten wieder ihren Spaß!

Das Haus des Klingelmannes in Nebel, wie es war.

Johannes Lassen wohnte mitten in Nebel, im Haus Nr. 68. Er war verheiratet mit Käthe Nickel, aber das Ehepaar hatte keine Kinder. Deshalb wurde 1929 die in Halle geborene Margot adoptiert. Margot heiratete den aus Norddorf stammenden Kurt Jannen (genannt “Kaudi”) und zog mit ihm nach Kriegsende 1946 – wie etliche andere Amrumer – nach Witten an der Ruhr, wo im Kohlenpott Arbeit zu finden war. Von vier Söhnen des nun verstorbenen Ehepaares haben einige noch immer Verbindung mit Amrum und verbringen hier ihre Ferienzeit.

Johannes Lassen war bis in die 1960er Jahre als Ausklingler aktiv und fuhr dann noch als einer der letzten zu einem Treffen in Berlin. Seine Frau Käthe starb im November 1956, Hanje am 17. März 1973. Aber im Tode wurde das Ehepaar voneinander getrennt. Weil versäumt worden war, zwei nebeneinander liegende Grabstellen zu erwerben, konnte Johannes Lassen nicht neben seiner schon 1956 verstorbenen Frau beerdigt werden. Doch auf dem Grabstein wurden beide wieder vereint.

“Hanje” war übrigens nicht der letzte Ausklingler auf den nordfriesischen Inseln. In Wyk auf Föhr wurde aus Traditionsgründen bis dato ein Ausklinger, Knudt Kloborg, angestellt, der mit seiner Klingel unverändert und gerade im 200jährigen Jubiläumjahr des Seebades zur Stelle ist.

Georg Quedens

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