Es gibt Andachtstexte, die Glocke tönt, Kirchenlieder sind zu hören, ein schönes Foto mit offenem Blick in den Altarraum: So präsentiert sich derzeit die St.-Clemens-Kirche den Menschen – im Internet.
Ihr streamt keinen Gottesdienst?
Martje Brandt: Einen Gottesdienst zu streamen in einer leeren Kirchen, nein, das wollten wir nicht. Du stehst zwar dort, wo du mit den Leute gerne zusammen wärst. Aber das ist nicht dasselbe. Eine Predigt ist ein Geschehen, die schreibe ich ja auch nicht bis ins letzte aus, die passiert in der Interaktion. Natürlich weiß ich, was ich sagen will, wenn ich auf die Kanzel gehe. Aber wie es kommt, das ist ein Geschehen in mir und in den Menschen und im Miteinander.
Wie sieht dein Tagesablauf jetzt aus?
So früh es am Tag geht, schreibe ich das „Gebet des Tages“ für unsere Internetseite. Dann bin ich morgens von neun bis zehn Uhr für Gebete und Einzelgespräche in der Kirche. Danach telefoniere ich zuhause. Ich habe Anrufe von gläubigen Menschen, älteren Menschen. Es geht hauptsächlich darum, uns gegenseitig zu vergewissern: wir sind in Gott aufgehoben – im Leben und im Tod. Und die Welt in ihrer Gesamtexistenz auch. Ich lese diese Stelle aus dem 2. Korintherbrief jeden Morgen in der Kirche: Getröstet, damit wir uns trösten können.
Unsere Kirchenmusikerin hat ihre Arbeitszeit am Nachmittag in die Kirche gelegt, so dass auch immer mal Musik ist, wenn jemand kommt. Sie spielt Orgel oder Flöte. Die Musik lockt die Leute auch vom Friedhof rein. Der Friedhof ist unglaublich besucht im Moment. Weil das ein Ort ist, wo man alleine hingehen kann. Und auch ein Ort des Gebetes, wo man auch über die Frage von Leben anders nachdenken kann. Also die Amrumer pflegen im Moment ihren Friedhof, das ist richtig schön.
Wie geht es der Gemeinde?
Den meisten geht es ganz gut. Die haben ihre Leute, mit denen sie in Kontakt sind. Ich versuche rauszukriegen, gibt es Hilfsbedürftige, die nicht bedacht sind? Ich frage in den Dörfern nach: Habt ihr alle im Blick?
Gibt es Menschen, die Ansprache brauchen?
Ja. Es gibt Menschen, die sich ängstigen, um sich, ihre Angehörigen und die Zukunft. Und welche, die vermissen den christlichen Gottesdienst, die Abendmalsgemeinschaft. Sie vermissen den Anlaufort.
Früher hätte man gedacht, Corona sei eine Strafe für menschliches Fehlverhalten.
Für gläubige Menschen ist das sicherlich so, dass es einen Zusammenhang gibt, von allem, was ihnen widerfährt. Prüfung ist ein besseres Wort als Strafe. Es gibt ja viele Stellen in der Bibel, wo die Endzeit beschrieben wird. Sind wir jetzt an der Stelle, wo Gott ernst macht? Das ist schon eine Frage, die Menschen jetzt haben.
Und was antwortest du?
Erst mal höre ich mir das an, denn das ist eine seelsorgerliche Frage. Dahinter stecken persönliche Ängste, das ist keine Frage von Predigt und theologischem Wissen. Dann kommt bei mir die Überlegung: Ich habe mir die Endzeit immer anders vorgestellt: mit einem Schlag und nicht so langsam. Wenn da stimmt, sehe ich in dem Langsamen eher eine Warnung. Da ist noch die Chance drin, etwas zu ändern, finde ich. Wenn es jetzt der Anfang vom Ende der Welt wäre, dann bin ich sehr gespannt, was jetzt kommt. Noch habe ich keine Angst und denke, auch da drin wird irgendein Heil liegen. Ich weiß es nicht, ich bin total stotterig an dem Punkt. Weil jedes Bild falsch ist, weil es nur ein menschliches Bild sein kann. In Gottes Trost geborgen sein. Darum geht es jetzt. Um kein Stück mehr. Und trotzdem ist es einfach nur fürchterlich, was Menschen jetzt gerade aushalten müssen. Dabei hat es alle getroffen, auch unsere westliche Welt. Nicht immer nur die anderen.
Was ist mit der Schuldfrage?
Die ist bei mir aufgehoben in einem großen Menschenbild und im Glauben, dass wir an Schuld nicht zerbrechen müssen: Wir sind immer schuldig. In dem Moment, wo du gehst, trittst du irgendetwas kaputt. In dem Moment, wo du in einem reichen, europäischen Land lebst, bist du schon von Geburt an schuldig, weil du in Strukturen lebst, die auf Kosten anderer gehen. Aus so einer Grundschuld des Lebens kommen wir nicht raus. Nicht alleine. Dazu haben wir als gläubige Christen Jesus an der Seite. Aber das ist jetzt auch wieder sehr viel Theologie. Für den Moment entscheidender finde ich, dass wir niemandem die Schuld geben an Ansteckung, wenn sie trotz aller Sicherheitsmaßnahmen geschehen sollte.
Ist dir aufgefallen, dass Gäste und Zweitwohnungsbesitzer hier sehr genau angeguckt wurden?
Ja, und ich habe auch sehr harte Worte gehört und deutliche Mails bekommen. Da haben einige einiges erlebt, wo ich echt dachte, wow … also ich habe auch Seelsorge an Gästen per E-Mail gehabt. Die einen haben hier ein Haus, einer ist lungenkrank, die hatten sich total eingekapselt und mir geschrieben, sie hätten für drei Wochen Lebensmittel dabei und wollten niemanden sehen und treffen. Eben um sich zu schützen. Und die mussten auf die Fähre. Die hofften, dass ihnen auf der Fahrt nichts passiert.
Verfolgt man manche Gesprächsrunden in den sozialen Netzwerken, kann man vom Glauben abfallen …
(lacht) Genau das will ich ja nicht … Ich bekomme davon wenig mit, weil ich in den meisten nicht aktiv bin. Aber das ist natürlich auch ein Nachteil jetzt. Auch als Kirchengemeinde haben wir keinen Facebook- und keinen Insta-Account. Ich würde es immer unterstützen, wenn wir so was hätten, wenn es jemand macht. Ich habe tausend Ideen, ich bin kreativ, aber keine Technikerin. Aber die Kirche wird wesentlich digitaler, und viele Kirchengemeinden und Kirchen sind da kreativ unterwegs.
Hast du Gedanken für die Zeit nach der Krise?
Nein, noch nicht so richtig. Wir sitzen alle in einem Boot, die ganze Menschheit, und wir sollten eben weder Inselgrenzen noch nationale Grenzen so hochhalten. Sondern das Leben. Und da ist jedes gleich viel Wert bei Gott. Dieses Grundgefühl sollten wir mitnehmen.
Ich wünsche mir, dass wir Gemeinschaft wieder genießen können, das Abendmahl, das Miteinandersingen, das Musizieren, das wir das alles ganz anders wert schätzen können.
Amrum hat mittlerweile ein schönes Abendritual:
Um 19 Uhr gehe ich zur Kirche und singe „Der Mond ist aufgegangen“ – alle sieben Strophen. Anne-Sophie spielt aus dem Turm Trompete. Ich sage immer, singt es zuhause mit. Zündet euch eine Kerze an, die Verbindung ist da, auch wenn wir nicht zusammen sind. Aber natürlich ist auch die Vorstellung schön, dass welche kommen und mitsingen – die Friedhofsmauer ist lang, da können wir viel Abstand halten.
Das Lied von Matthias Claudius ist über 240 Jahre alt, von 1779.
Das Lied trägt. Es ist alles drin, was man braucht. Gott lass dein Heil uns schauen / auf nichts Vergänglichs trauen / nicht Eitelkeit uns freun. Wir haben es in der Hand, was wir mit der Welt machen. „Wir spinnen Luftgespinste“ und kommen immer weiter von dem Ziel als Menschen weg. Verschon uns Gott mit Strafen / lass uns ruhig schlafen / und meinen kranken Nachbarn auch. In dem Lied wird unsere gesamte Existenz in dieser Zeit beschrieben. Wenn mich irgend jemand fragt, was ich theologisch denke, dann sage ich, lies’ den Text!
Die stille Welt, die stille Kammer, „wo ihr des Tages Jammer / verschlafen und vergessen sollt“. Das erinnert mich an die Anrufe, die ich bekomme. Die Leute haben Tagesjammer. Viele haben Ängste, was wird mit Angehörigen, was wird mit der Welt?
Ich gehe um fünf nach sieben wieder nach Hause, das ist nur ein ganz kurzes Andocken, aber ich merke: Für diesen Moment ist da eine große Tiefe, ein intensives Erleben. Das ist wunderschön.
Bevor Martje Brandt vor zwei Jahren nach Amrum kam, war die 55-Jährige zehn Jahre lang Pastorin in Pinneberg. Sie stammt aus Harburg und hat in Hamburg studiert. Auf der Insel fand sie schnell ihr Zuhause.
Dieses ist eine überarbeitete Version des Originaltextes vom 20. April 2020.