Das Spektakel um den Pastor Georg Leonhard Beck (Pastor auf Amrum von 1875 bis 1878) artete, wie in Amrum News am 19.8.22 beschrieben, in den 1880er Jahren zu einem jahrelangen insularen “Kirchenkampf” aus und endete mit dem Abgang des überfrommen und eifernden Gottesmannes. Aber damit folgte nur eine bedingte Ruhe in der St. Clemens-Gemeinde, weil einige Protagonisten der überchristlichen Pietät als Einheimische ihren Platz in der Inselgemeinde behaupteten. Dazu gehörte unverändert der Ruheständler Bandix (Böle) Bonken, der mit einem Pferd über die Insel ritt, um seine Anhänger mit Traktaten und missionarischen Ermahnungen sowie mit seinen Sonntagsschulen in den eigens dazu erbauten Häusern in Nebel und Norddorf auf den rechten Glaubensweg zu führen (Bonken starb erst 1926 auf einer “Missionsreise” in Bollhaus auf dem nordfriesischen Festland). Aber auch der Entenfänger Cornelius Peters in der Vogelkoje Meerum (gestorben 1892) und der Norddorfer Strandvogt Friedrich Erken (gestorben 1899) gehörten zu den “Parteigängern” des auf Amrum gescheiterten Pastors Beck, dazu aber auch etliche älteren Frauen und die damals noch junge Lehrerin Ida Christine Matzen (1867 – 1936). Ida Christine wurde am 9. April 1867 in Nebel geboren. Ihre Eltern waren Jacob Casper Matzen und Christiane, geb. Jürgens. Der Vater hatte ein Boot für die Austern- und kleine Küstenfischerei, war Totengräber und Tagelöhner auf einer Insel, die vor Beginn des Fremdenverkehrs 1890 kaum dauerhafte und schon gar keine gut bezahlten Arbeitsplätze bot. Er beschäftigte sich bei Gelegenheit damit, mächtige Findlinge mit einer Durchhöhlung als sogenannte “Murangstianer” zum Verankern von Schiffen zu versehen. Dabei soll er auch Findlinge aus vorzeitlichen Steinzeitkammern verwendet haben.
Als im Jahre 1887 zum ersten Male eine ausgebildete Lehrerin an der Schule in Nebel angestellt wurde, verstand Jacob Casper Matzen die Welt nicht mehr. Denn das war damals etwas ganz Neues. Er war dann eine Ironie der Geschichte, das ausgerechnet auch seine Tochter Ida sich diesem Beruf verschrieb! Es spricht für die Energie dieser jungen Frau, dass sie sich für einen Beruf entschied, denn das Elternhaus konnte dazu kaum einen Antrieb gegeben haben. Das “Normale” war in jener Zeit, dass die Mädchen nach Schulentlassung und Konfirmation “in Stellung gingen”, d. h. sich bei einem Bauern oder in einem Haushalt als Hilfskraft verdingten und im übrigen darauf warteten, geheiratet zu werden und einen eigenen Hausstand und eine Familie zu begründen. Ida Christine Matzen aber besuchte das Evangelische Lehrerseminar in Augustenburg auf Alsen (von 1864 bis 1920 vorübergehend zum Deutschen Reich gehörend) und absolvierte ihre ersten Jahre als Lehrerin in Neukirchen südlich von Heiligenhafen in Ostholstein. Im März des Jahres 1902 wurde sie auf eigenen Wunsch an die Schule in ihrem Heimatdorf Nebel versetzt. Dabei hatten die Schüler in Nebel wohl Glück, dass der vorherige Lehrer Böle Bonken schon 1893 wegen seiner religiösen Radikalität vorzeitig pensioniert worden war, denn Ida Matzen war ebenfalls überfromm. Aber diesbezügliche Probleme bei ihrem Unterricht wurden nicht bekannt.
Vielmehr lebte Ida Christine Matzen ihre fanatische Frömmigkeit in anderer Weise aus. Anfang September 1906 hatte Amrum wieder einmal einen neuen Pastor erhalten – den Vikar Magnus Weidemann.
Magnus Weidemann wurde am 17. Dezember 1880 in Hamburg geboren. Er wollte eigentlich Kunstmaler werden, aber seine Eltern drängten auf einen “bürgerlichen” Beruf, und so studierte er in Kiel Theologie, wurde im April 1906 in der Domkirche zu Schleswig ordiniert (öffentliche Einführung in das Predigeramt), war zunächst Hilfsprediger in der St. Nikolai-Kirche in Flensburg und erhielt dann die Berufung nach Amrum, wo er am 9. September 1906 zum ersten Male in der St. Clemens-Kirche predigte.
Amrum hatte zwar den fanatisch frommen und intoleranten Pastor Georg Leonhard Beck (1875 – 1878) vertrieben, aber unverändert spielte eine fundamentale Frömmigkeit auf der Insel noch eine Rolle, angefeuert auch durch Bandix Bonken, der wie erwähnt zu Pferde durch die Dörfer ritt und in seinen Sonntagsschulen in Nebel und Norddorf einer nicht kleinen Gemeinde den “heiligen Geist” vermittelte. Dem neuen Pastor Weidemann war diese Geisteshaltung aber fremd. Und es dauerte dann auch nicht lange, bis eine Riege von Frauen erkannte, dass dieser Mann nicht der Richtige auf der Kanzel war. Auf Initiative von Ida Christine Matzen schlossen sich – zunächst in geheimen Zusammenkünften – Frauen aus Nebel und Norddorf zusammen und schrieben an die Kirchenbehörde: “Die Kirche hat nicht das Recht, einen Theologen anzustellen, der die Heilige Schrift nur insoweit gelten läßt, als es eine glaubenslose weltliche Wissenschaft gestattet – Wir wollen Pastor Weidemann hier nicht haben, und wenn wir an den Kaiser schreiben müssen!” Und Pastor Weidemann schrieb in seinen Erinnerungen, dass Frauen bei ihm nach der Kirche im Pastorat erschienen und ihn zur Rede stellten. “Dabei gab es einen scharfen Disput und ich habe eine dieser Damen “Pharisäer” genannt.”
Ganz anders aber die Reaktion der männlichen Gemeindemitglieder, die den Pastor gerne behalten wollten. Die Fronten waren seit Pastor Becks Zeiten noch immer da, vermutlich auch durch die unveränderte “Mission” des früheren Lehrers und Küsters Bandix Bonken. Die Kirchenbehörde stand nun vor der problematischen Situation, dass sie erst einen Pastor wegen fanatischer Frömmigkeit entlassen hatte und nun umgekehrt den Nachfolger entlassen sollte, weil er etlichen Frauen der St. Clemens-Gemeinde nicht fromm genug war und wissenschaftliche Erkenntnisse gelten ließ. Die Behörde entschloss sich, den frommen Frauen nachzugeben und Pastor Weidemann zu versetzen, vermutlich auch, um einen erneuten “Kirchenkampf” auf Amrum zu vermeiden.
Magnus Weidemann wäre gerne Pastor auf Amrum geblieben, weil sich hier in der grandiosen Inselnatur seine künstlerischen Neigungen voll entfalten konnten.
Nur wenige Jahre war Weidemann Pastor auf Amrum und hat der Gemeinde doch ein bleibendes Denkmal hinterlassen – die Gestaltung des Kirchturmes. Im Februar 1906 hatte der Amrumer Kirchenvorstand beschlossen, die Kirche mit einem ordentlichen Turm zu versehen. Bis dahin hatte an der Westwand immer nur ein mehr oder weniger stattlicher Glockenstapel gestanden. Dem Husumer Architekten P. Chr. Petersen wurde der Turmbau übertragen. Aber dann schaltete sich das Kirchenamt ein, und deren Regierungsrat Tieffenbach legte einen Entwurf vor, den Magnus Weidemann als “Gräuel” bezeichnete. Der St. Clemens-Vorstand erwartete jedoch einen “kirchlich-würdigen Turm, der zum Kirchenschiff passt und möglichst wenige Kosten verursacht”. Magnus Weidemann legte einen solchen Entwurf vor, allerdings mit einem Helmdach des Turmes anstelle des hier im Norden üblichen Satteldaches. Der Turmbau kostete schließlich 16.000 Mark und wurde in kurzer Zeit von der Baufirma Heinrich Behrens aus Wittdün erstellt.
Magnus Weidemann erhielt eine Pastorenstelle in Blankenese, aber 1928 schied er aus dem Kirchendienst aus, um sich nun ganz seinen künstlerischen Neigungen hinzugeben. Er zog nach Keitum auf Sylt, kaufte hier 1926 ein Haus und machte sich als Maler großformatiger Gemälde einen bleibenden Namen. Zusammen mit seinen Freunden Ferdinand Goebel und Knud Ahlborn war er auch ein Verfechter der Freikörperkultur, die zunächst in den Baracken des späteren Jugendheimes “Klappholttal” eine Heimstatt fand und – nach anfänglicher moralischer Empörung – später auf Sylt und an der ganzen Nordseeküste ihre Anhänger fand. Am 9. Oktober 1967 starb Magnus Weidemann und wurden neben seinen Freunden auf dem Keitumer Friedhof begraben. Drei Jahre zuvor hatte er noch einmal Amrum besucht.
“Die Hütte wird zur Tempelhalle, wo Gottes Friede niederschwebt”
– so lautet die Überschrift eines Kapitels aus dem Buch “Kinder Frieslands”, das Ida Christine Matzen im Jahre 1914 publizierte und das ihre übergroße Religiösität verrät. Das über 400 Seiten starke Buch im Selbstverlag der Verfasserin, aber gedruckt in der Christlichen Buchhandlung Jensen in Breklum, verrät eine profunde Kenntnis über die komplizierte Situation zwischen deutsch und dänisch im Grenzraum und ein genaues Wissen über das damals noch urtümliche Leben und die Sitten und Bräuche im alten Amrum. Der Inhalt ist aber derartig im “Gott sei bei uns” eingekleidet, dass er nur Kennern der Inselgeschichte eine Fundgrube ist. Leser jener Zeit haben das Buch dann auch nicht ernst genommen. Sie kannten die Zustände in der Familie Jacob Casper Matzen und wussten, dass im Hause des Schiffers und Tagelöhners der harte Lebenskampf der Insulaner herrschte und keineswegs der “heilige Geist” durch die ärmlichen Stuben schwebte.
Ida Christine Matzen hat in ihrer Zeit als Lehrerin kein Vermögen anhäufen können. Ihr Jahresgehalt betrug mit allen Zulagen 1240 Mark. Und sie schied auf eigenen Wunsch im September 1911 aus dem Schuldienst aus und lebte in Nebel. Auf dem Grundstück der Eltern konnte sie sich immerhin ein Haus erbauen.
Aber sie war im Gefolge ihrer übertriebenen Frömmigkeit etwas “nüürag”, etwas wunderlich geworden. Schüler beobachteten, wie sie in ihrer Stube auf und ab ging und vor sich hin “weil ich Jesu Schäflein bin…” summte. Angeblich soll sie gehofft haben, dass der neue Inselpastor, der auf Magnus Weidemann folgte, nämlich der von Föhr stammende Cornelius Riewert Ketels, sie als Ehefrau “heimführen” möge. Sie blieb unverheiratet und starb am 11. August 1936. Wilma Blechenberg, zur großen Familie Matzen – Martens in Süddorf gehörend, hat auf ihrer eigenen Grabstelle auf dem Neuen Friedhof in Nebel für die Bewahrung der Daten von Ida Christine Matzen gesorgt und dort deren verwitterten Grabstein aufgestellt.
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