Der Stammvater
Es ist nun schon über ein halbes Jahrhundert her, da spazierte ein älterer, etwas rundlicher Mann durch das „historische“ Norddorf, blieb vor dem einen und anderen Haus eine Weile stehen und strich seinen Spitzbart, der an jenen des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, erinnerte.
Es handelte sich aber keineswegs um den damaligen Staatsmann, sondern um den Ur-Amrumer Richard Matzen, geboren am 13. Juli 1884 in einem kleinen Friesenhaus in Norddorf, das später als „Friesenlädchen“ berühmt wurde. Die Eltern von Richard waren Wehn, geborene Flor und Johannes Matzen, Seefahrer, Kapitän und zuletzt Eigner eigener Schiffe.
Der Stammvater der Familie Matzen und Onkel Richards Großvater, Matz Matzen, kam von auswärts, aus Dänemark, und zwar aus dem Örtchen Grimstrup nahe von Esbjerg. Amrum gehörte bekanntlich bis zum Jahre 1864 zum Königreich Dänemark, und von dort wanderten etliche Männer in die reichsdänische Enklave Amrum ein, besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die große Zeit der Seefahrt in eine Krise kam und nach Aufhebung der „Feldgemeinschaft“ die Landwirtschaft eine größere Rolle zu spielen begann. Die Dänen, genauer die Jüten aus dem südlichen Teil des Königreiches, kamen als Helfer in die Landwirtschaft, halfen aber auch mancher älteren, aber auch jüngeren „Jungfer“ in den Ehestand und begründeten noch heute bestehende Familien. Der Stammvater der Norddorfer Matzen, Mads Madsen, kam aber nicht als junger Arbeitsmann nach Amrum, sondern wurde als Knabe von seinen Eltern Maren Bertelsdatter und Mads Nielsen zu Verwandten, Maren und Eschel Jensen in Norddorf gesandt. Angeblich war Mads unehelich geboren, und das war damals ein Makel, besonders für die Mutter, die dafür noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts ihre „Sünde“ mit einigen Wochen Gefängnis verbüßen musste! „Uneheliche“ Väter hingegen blieben unbestraft.
Der Name Mads und der sich daraus ableitende patronymische Familienname Madsen gehörten damals nicht zum amrumfriesischen Namensschatz, und erst in „deutscher“ Zeit wurde aus Madsen mit „ds“ das deutsche „tz“ (das „z“ ist in Dänemark in der Schriftsprache ganz unüblich). Eine zweite Matzen-Familie auf Amrum im 19. Jahrhundert, begründet von Jacob Casper Matzen, stammte aus Eiderstedt.
Mads war, wie noch die meisten Jungmänner, zunächst in der Seefahrt und Küstenfischerei beschäftigt. Die von der dänischen Regierung durchgeführte „Folketaelling“ (Volkszählung) des Jahres 1834 nennt Mads, unverändert im Hause der Pflegeeltern Eschels im Haus Nr. 23 in Norddorf wohnend, „Bootsfahrer und Fischer“, 28 Jahre alt. Aber im folgenden Jahr, 1835, ist er verheiratet mit Kerrin Peters. Mir ihr hatte er zwei Kinder – die 1836 geborene Tochter Mina, die später die Stammmutter der auf Amrum und in Amerika verzweigten Familie Flor wurde, und den 1838 geborenen Peter, der aber schon als Kleinkind starb.
Im Jahre 1840 starb auch die Ehefrau, und Mads heiratet die Seemannswitwe Metgen Johannsen, deren Ehemann Johannes Christians als Steuermann auf einem russischen Schiff im November 1836 an der norwegischen Küste bei einem Sturm über Bord geschlagen war. Ein Briefschreiber jener Zeit meldet, dass Mads „die Witwe nur wegen des Geldes geheiratet hat“. Aber welche Reichtümer waren wohl im Hause einer Seemannswitwe vorhanden? Metgen brachte einen Sohn mit in die Ehe, den später als Lehrer an der Domschule zu Schleswig und als Heimatforscher und Vorkämpfer für die Bewahrung der friesischen Sprache bekannt gewordenen Christian Johannsen (1820 – 1871).
Aber auch die zweite Ehe von Mads dauerte kaum vier Jahre. Im Juni 1844 starb Metgen, und Mads musste für Haus und Hof und Kleinkinder aus der ersten Ehe wieder eine Ehefrau finden. Zunächst warf er ein Auge auf die von Onkel Richard anonymisierte „Chr. M.“, und hier kann es sich nur um Christine Matzen (1813 – 1892) aus der Süddorfer Casper Matzen-Familie gehandelt haben, weil die „Geschlechterreihen der Insel Amrum“ von Prof. Martin Rheinheimer keinen anderen Namen mit dem obigen Kürzel ausweisen. Aber dann heißt es in der Chronik: „Die Freite von Mads Madsen und Chr. M. ist alle. Er hat seine Haushälterin Ehlken Hanjes beschlafen und muss diese nun heiraten“. Onkel Richard erzählt diese Geschichte über seinen Großvater offen und schmunzelnd mit der nachsichtigen Bemerkung, dass es in der Welt und auch auf Amrum immer sehr menschlich zuging. Wie weit nun die „Freite“ von Mads Madsen und Christine gediehen war, sei dahingestellt. Aber damals hatten Verlobungen schon einen hohen Rang, wurden sogar in der Kirche verkündet und waren eine Art Vor-Ehe! Der Bruch einer Verlobung sorgte für großes Aufsehen und Inselgespräche!
Ehlken Hanjes‘ merkwürdiger Familienname begründete sich auf den Vornamen ihres Vater Hanje Jacobs. Erst im Jahre 1828 wurde die patronymische Namensgebung, die Bildung des Familiennamens aus dem Vornamen des Vaters, auf Westerlandföhr und Amrum aufgehoben, aber durch die Bevölkerung aus jahrhundertealter Gewohnheit noch weiter praktiziert. Selbst die Pastoren als Vorgänger der späteren Standesbeamten pflegten noch in Einzelfällen oder auf Wunsch der Betreffenden das Patronymikon, zuletzt durch Pastor Mechlenburg noch in den 1860er Jahren! Erst seit 1834 wurden in den Amrumer Kirchenbüchern die Familiennamen generell festgeschrieben.
Ehlken Hanjes, die von Mads Madsen beschlafene Haushälterin, wurde 1815 geboren und lebte bis 1899 in ihrem kleinen Friesenhaus Nr. 29 in Norddorf. Seit Dezember 1844 verheiratet, gebahr sie sechs Kinder, von denen zwei früh starben, aber die anderen Stammeltern heute noch lebender Familien in Dänemark, auf Amrum und in Amerika wurden (Martens, Martinen, Quedens, Cöster u. a.).
Mad Madsen kuriert einen Selbstmörder
Der „Däne“ Mads Madsen hat sich aber nicht nur durch seine offensichtlichen Erfolge bei Frauen, mit seinen drei Ehen und als Stammvater in die Inselgeschichte eingeschrieben, sondern auch durch Vorfälle, über die sein Enkel Richard Matzen in anekdotenartiger Weise berichtet hat. Beispielsweise wurde er eines Tages von der Nachbarin Mina alarmiert, weil sich ihr Mann, Martin Hagen Petersen, aufhängen wollte. Mads eilte hinauf in das Nachbarhaus und fand Martin auf dem Hahnenbalken mit einer Schlinge um den Hals. Und Mads reagierte auf eine psychologisch wirksame Art. Er sagte zu seinem Nachbarn: „Martin, das hast du nicht richtig vor, so funktioniert die Schlinge nicht“. Er nahm ihm den Strick vom Hals, fummelte etwas daran herum und streifte ihn Martin wieder über mit dem Hinweis: „Jetzt wird das Erhängen klappen“. Aber Martin nahm sich mit glasigen Augen die Schlinge ab und sagte: „Ich mich erhängen? Darauf könnt ihr lange warten!“. Dann sprang er herunter und verschwand, um in der nahegelegenen Marsch nach dem Vieh zu schauen – auf Lebenszeit von seinen Selbstmordabsichten kuriert! Mina und Martin wanderten 1872 zu ihren Kindern nach Amerika aus und sollen dort noch glückliche Jahre gelebt haben.
Der letzte Walfänger von Amrum
Nachhaltige „Geschichte“ machte Mads aber auch als „letzter Walfänger“ von Amrum in einem leider nicht genannten Jahr. Und das kam so: Mads war eines Morgens mit seinem Boot westlich von Amrum unterwegs, um nach Seehunden und Strandgut zu sehen. Da entdeckte er auf einem der großen Seesände (Jungnahmen?) einen großen, dunklen Gegenstand, den er zunächst für ein Schiffswrack hielt, aber näherkommend als einen Wal, vermutlich Pottwal, identifizierte. Sofort entwickelte sich bei Mads der seinerzeit noch verbreitete Jagdinstinkt. Er sah seinen Keller schon voller Tranfässer und die Versorgung seines Hauses auf Jahrzehnte gesichert. Aber das riesige Tier lebte noch, und Mads versuchte, es zunächst wie früher beim grönländischen Walfang mit seinem Bootshaken zu harpunieren, was bei der dicken Speckschicht des Tieres aber nicht gelang. Das Röcheln aus dem Atemloch des Wals verriet, dass das Tier unverändert am Leben war. Und nun hatte Mads die Idee, das Atemloch zu verstopfen, um den Wal zu töten. Aber womit? Am ehesten erschien ihm seine wollene Unterhose als geeignetes Mittel, und gedacht, getan, Mads ließ die Hose fallen, zog seine Unterhose aus und stopfte sie in das Atemloch des Wales, der bald darauf still und scheinbar tot in der Brandung der Sandbank lag. Mads schlug seinen Bootsanker in die Schwanzflosse des Tieres und wartete nun auf die steigende Flut, um seine Beute nach Amrum zu rudern. Endlich wurde der Wal flott, und Mads legte sich in die Riemen. Aber was war das?! Das große Tier wurde plötzlich lebendig und setzte sich mittels seiner Schwanzflosse in Bewegung – Richtung Grönland. Mads ruderte aus Leibeskräften, aber die Flossenschläge des Wales waren stärker. Schließlich musste Mads die Schlepptrosse kappen, um wenigstens sein Boot zu bewahren. Enttäuscht und mit allen Kräften am Ende kehrte er nach Amrum zurück, wo sein Erlebnis monatelang für Gesprächsstoff sorgte.
Wale und Delfine kommen, wenn sie ihr Ende spüren, nicht selten an Land. Das wird auch bei der vermeintlichen Beute des „letzten Amrumer Walfängers“ der Fall gewesen sein. Britische Zeitungen berichteten Wochen später von dem toten Wal an der schottischen Küste und dem Bootshaken in der Speckschicht. Aber von einer Unterhose im Atemloch war keine Rede.
Georg Quedens