Teerfässer unter Omas Matratze
Es wäre wohl sehr ungewöhnlich und unnormal, wenn Mads Madsen nicht auch als Strandräuber zur Inselgeschichte beigetragen hätte, und auch dazu hat Onkel Richard eine heitere Episode erzählt. Es war im Spätsommer des Jahres 1833, da scheiterte vor dem Kniepsand die russische Galeasse „Hopets Ankere“, beladen mit Teerfässern. Etliche dieser Teerfässer trieben nun in der Nordsee vor Amrum herum und erweckten die Beutegier der Insulaner, die mit ihren Booten unterwegs waren, um die Teerfässer zu bergen, die sich offenbar drüben auf Föhr für einen guten Preis verkaufen ließen.
Aber die Strandvögte und Beamte der Birkvogtei hielten Haussuchung und gingen zu diesem Zweck von Haus zu Haus. Ein Knabe aber eilte dieser Aktion voraus, um die Dorfbewohner zu warnen. So kam er auch zu Mads Madsen. „Hast du auch Teerfässer im Haus?“, fragte der Knabe, und Mads antwortete erst: „Nein“. „Na, ich wollte nur vor der Haussuchung warnen“. „Was?!!“, stöhnte Mads, „dann hilf mir doch schnell, meine Fässer zu verstecken!“ Sie hoben die alte Schwiegermutter aus dem Wandbett, legten die Fässer hinein und die Matratze nebst Schwiegermutter obendrauf. So blieb die nachfolgende Haussuchung ohne Folgen.
Aber nicht alle Amrumer hatten dieses Glück. Aus Norddorf wurden vier Männer von den Strandbehörden auf frischer Tat ertappt, als sie einige Teerfässer nach Föhr befördern wollten, aber mit ihrem Boot bei Ebbe auf halbem Weg im Watt strandeten. Und das zuständige Obergericht statuierte ein Strafexempel. Die Strandräuber wurden zu anderthalb Jahren Zuchthaus verurteilt, obwohl sowohl die Birkvogtei als auch der Amtmann in Tondern auf eine milde Strafe plädierten und der Inselpastor Mechlenburg um Gnade bat, „(…), weil die Familien der Verurteilten bei längerer Abwesenheit ihrer Ernährer in die allergrößte Armut gerieten“. Immerhin waren alle Verurteilten Familienväter mit Kleinkindern. Eine besondere Dramatik erhielt die Verurteilung, als der erst 36 Jahre alte Familienvater Martin Martinen am 14. Juni 1834 im Gefängnis starb – ob Freitod oder aus Gram über die unversorgte Familie, blieb unbekannt.
Aber möglicherweise dämmerte nun auch den Herren des „Criminal-Obergerichtes“ in Schleswig, dass die Strafe wegen Strandräuberei in keinem Verhältnis zu den nicht etwa am Strande oder aus einem gestrandeten Schiff geraubten, sondern draußen auf See aufgefischten Teertonnen stand. Jedenfalls „resolvierte Frederik VI., König von Dänemark etc. am 19. Juli 1834, dass die Züchtlinge am demnächst bevorstehenden Krönungstag zu entlassen sind“.
In dänischer Zeit wurden in der Zeit von 1769 bis 1860 mehrere Volkszählungen durchgeführt, so auch auf Amrum. Pastoren oder Lehrer gingen von Haus zu Haus und notierten die Bewohner, deren Alter und „Embede“, Berufe und Lebensunterhalt. Mads Madsen wird über Jahrzehnte als „Baadskipper“, als Bootsschiffer, genannt. Er hatte also, wie viele Insulaner, ein Segel- und Ruderboot, das im kleinen Fleethafen der noch unbedeichten Norddorfer Marsch oder im Naturhafen des Kniepsandes lag. Dieser „Kniephafen“ reichte mit einer Öffnung im Norden bis hinunter in Höhe der heutigen Nebeler Strandhalle. Amrumer Schiffer nutzten ihre Boote für die Seehundsjagd, für die Küstenfischerei (größere Schiffe auch für den Austernstrich), für kleine Frachtfahren nach Föhr und natürlich auch für das Bergen von Strandgut. So heißt es in den „Täglichen Notizen“ von Pastor Mechlenburg unter dem 29. Oktober 1865: „Mads Madsen Emder Kuff von 50 Commerzlasten geborgen“. Ein größerer Strandungsfall ist in den Archivalien aber nicht verzeichnet. Vermutlich hat es sich um einen Seenotfall gehandelt, den Mads Madsen in die sichere Hafenbucht von Steenodde geborgen und dafür einen hohen Bergelohn kassiert hat. Bergelöhne auf havarierte Schiffe und Schiffsgüter waren für die Amrumer in jener Zeit die größten und oft auch die einzigen Bargeldeinnahmen.
Im Comitee des Strandlegates
In den Jahren um 1864/66 hatte es in der Birk Westerlandföhr-Amrum eine gewaltige Änderung der Staatsangehörigkeit gegeben. In der Auseinandersetzung im deutsch-dänischen Grenzgebiet kam es 1864 zum Krieg zwischen Dänemark und Preußen/Österreich, Dänemark verlor und musste die bis dahin zum dänischen Gesamtstaat gehörenden Herzogtümer Schleswig-Holsteins an die Siegermächte abtreten, eingeschlossen die darin liegenden reichsdänischen Enklaven Listland/Sylt und Westerlandföhr/Amrum. Aber der dänische Birkvogt in Nieblum, Trojel, blieb noch zwei Jahre im Amt, und von ihm liegt in den Akten des Amrumer „Strandlegates“ ein Brief vor mit der Nachricht, dass anstelle des „ausgetretenen Peter Rolufs der Bootsschiffer Matz Matzen als Mitglied des Strandlegat-Comitees bestätigt wird (…)“.
Das Strandlegat war eine einzigartige Einrichtung, die es vermutlich nur auf Amrum gegeben hat. Grundlage waren die zahlreichen Strandungsfälle und die damit verbundenen „Bergelöhne“. Da kam im Dezember 1821 der Birkvogt Dahl Nielsen und machte den in der Schule Nebel versammelten Männern den Vorschlag, zukünftig von den Bergelöhnen 5% „zum Wohl und Besten des St. Clemens-Kirchspiels“ abzugeben. Ein bemerkenswerter Vorgang, der sich auf die Erwartung und das Hoffen auf Strandungsfälle begründete und den Ruf der Amrumer, „Strandräuber“ zu sein, weiter verfestigte.
Es folgten auch bald mehrere Strandungsfälle, die zu beachtlichen Einnahmen für das Strandlegat führten. Für die Verwaltung des Legates wurde ein Comitee von fünf Männern bestimmt, „die bei ihren Mitbürgern in gutem Rufe stehen und von Vermögen sind“. Mads Madsen gehörte dazu und unterschrieb, nun nicht mehr mit seinem dänischen Namen, sondern mit dem „tz“ der deutschen Version – Matzen.
Von 1825 bis 1897 trugen Strandungsfälle und Bergelöhne über das Strandlegat zu den öffentlichen Einnahmen der St. Clemens-Gemeinde bei, beispielsweise im Jahre 1885 zur Schulkasse 210, zur Kirchenkasse 160 und zu den allgemeinen Kommunekosten 50 Mark Courant. Aber von 1843 bis 1869 meldet das Protokollbuch keine Einnahmen – warum, wird im Protokollbuch nicht erklärt. Möglicherweise steht hier eine Zahlungsverweigerung in Zusammenhang mit einem Unglücksfall des Schiffers Knud Knudten (1786 – 1843), der bei der Bergung des Schiffes „Heinrich und Robert“ in den Wogen einer Brandung den Tod fand und zugleich sein Boot verlor.
Die Statuten des Strandlegates sahen keine entsprechende Unterstützung für Hinterbliebene vor, doch hatte das Comitee beschlossen, „dass bei Personenschäden oder Tod direkt bei der Bergung eine besondere Unterstützung aus der Kasse gereicht werden kann“. Aber als die Witwe Ingke in einem bewegenden Brief um Unterstützung für sich und ihre noch unmündigen Kinder bat, wurden ihr nur für zwei Jahre je 25 Mark Courant bewilligt. Es wäre nachvollziehbar, wenn nachfolgende Berger zunächst eine Bezahlung der 5 Prozent vom Bergelohn verweigerten!
Das Ende des Strandlegates erfolgte erst durch ein Gerichtsurteil im Mai 1899, als der Wittdüner Strandvogt und Schiffsberger Volkert Martin Quedens die Zahlung verweigerte. Geschehen war folgendes: Am 4. Juli des Jahres 1897 strandete auf Knudshörn, einer Sandbank westlich von Hallig Hooge, der deutsche Dampfer „Stettin“ und wurde von Volkert Martin Quedens und Genossen wieder abgebracht. Der Bergelohn betrug 17.000 Mark, mithin für das Strandlegat 850 Mark. Aber Volkert Martin Quedens verweigerte die Zahlung mit dem Hinweis, dass in letzter Zeit fast immer fremde Schlepper (professionelle Bergungsfirmen, die von einheimischen Amrumer Agenten bei Strandungsfällen alarmiert wurden) in das Bergungsgeschehen eingriffen, aber keine 5% des Bergelohnes in die Kasse des Strandlegates einzahlten. Die Richter des hohen Gerichtes in Flensburg, die vom Comitee des Strandlegates angerufen wurden, erkannten am 18. April 1899 aber einen ganz anderen wichtigen Grund für die Zahlungsverweigerung: die seinerzeitige Verpflichtung der 61 Männer im Jahre 1820 könne nur für diese gelten, nicht aber für nachfolgende Generationen… das war das Ende dieses höchst bemerkenswerten Strandlegates!
Berichte, dass Matz Matzen zeitweilig auch Strandvogt und Dorfvorsteher (eine Art Bürgermeister in dänischer Zeit) in Norddorf gewesen sei, ließen sich aber nicht nachweisen.
Der Bau der Vogelkoje „Meerum“
Aber Matz Matzen machte mit anderen wichtigen Daten weiterhin Inselgeschichte. Inselfriesische Walfänger und Seefahrer hatten im 18. Jahrhundert in Holland die Vogelkojen zum Massenfang von durchziehenden Wildenten entdeckt und übertrugen solche Anlagen auch auf ihre Heimatinseln, zuerst im Jahre 1730 in der Oevenumer Marsch auf Föhr, 1769 auch bei Kampen auf Sylt. Weitere folgten auf beiden Inseln und meldeten bald erfolgreiche Entenfänge, die zu einem wichtigen Faktor für die Ernährung der Inselbevölkerung wurden. Verständlich, dass sich auch auf Amrum entsprechende Vorstellungen entwickelten, denn hier war das Watt in der herbstlichen Zugzeit ebenfalls von Wildenten (Spieß-, Pfeif- und Krickenten) überfüllt. Eine erste Versammlung von „Kojeninteressenten“ auf Amrum wurde im Jahre 1806 auf Steenodde einberufen, aber sie blieb ohne Ergebnis, obwohl schon Landflächen im „Bäärendääl“, einem Tal zwischen zwei Geesthöhen am Wattufer nördlich von Nebel gekauft waren. Es dauerte dann bis zum Jahre 1865(!), ehe eine neue Initiative erfolgte. Am 10. Dezember 1865 versammelten sich Kojeninteressenten in der Gaststätte von Simon Jacobs (später Quedens‘ Gasthof Tina Meyer), vornehmlich auf Betreiben des Schmiedemeisters Nickels Johann Schmidt (1829 – 1910) aus Nebel.
Fast alle damaligen Amrumer Familien, nämlich reichlich 90, beteiligten sich durch den Kauf eines „Antheil-Scheines“ an dieser Unternehmung, die zunächst eine gewaltige Erdarbeit bedingte. Und wer war der Erbauer der Vogelkoje Meerum? Matz Matzen! Im Tagebuch des Austernvorfischers Roluf W. Peters lesen wir unter dem Datum vom 7. April 1866: „Die Anlage einer Vogelkoje für 2400 Mark Courant an Matz Matzen verdungen“. Und am 29. Mai 1866: „7 fremde Arbeitskräfte zum Graben an der Vogelkoje für 3 MC (Mark Courant) und 6 ß (Schilling) je Rute übernommen.“ Bei den fremden Arbeitern dürfte es sich vor allem um Föhrer gehandelt haben, nachdem Matz Matzen sich natürlich vor Übernahme der Arbeit Föhrer Kojen und die Funktion des Fangsystems angeschaut hatte. Aber auch zahlreiche Amrumer fanden als Tagelöhner Arbeit beim Ausheben des hektargroßen Kojenteiches, der Fangkanäle („Pfeifen“) und des breiten und tiefen Grabens rund um die Gesamtanlage. Auch der Bau des Kojenwärterhauses dürfte einigen Landsleuten Arbeit und Brot verschafft haben.
„Der Anfang mit dem Bau der Kojenanlage war am 11. April des Jahres 1866 gemacht worden“ (Tagebuch R. W. Peters). Und unter dem 29. Oktober 1867 meldet das Tagebuch des Norddorfer Lehrers Johann Martensen: „Die ersten Enten aus der Koje“. Bis zum Jahre 1936, in den fast 70 Jahren ihrer Funktion, wurden in der Koje rund 420.000 Wildenten, vor allem die großen und schmackhaften Spießenten, gefangen, und da fast alle Insulaner ein Kojenlos hatten, gab es in allen Häusern reichliche „Dividende“ in Form von Entenbraten. Die Fänge waren zeitweilig aber auch so groß, so im Jahre 1922 fast 14.000, im Jahre 1924 knapp 11.000 Enten, dass in Nebel von 1896 bis 1930 eine „Entenkonservenfabrik“ eingerichtet und Amrumer Kojenenten durch das ganze Vaterland versandt wurden.
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde die zerfallene Anlage von den Kurverwaltungen Nebel und Norddorf wieder hergerichtet und entwickelte sich fortan für die Inselgäste zu einer Naturattraktion, deren Besucherzahlen mit denen des Leuchtturmes konkurrieren. Aber der Erbauer, der „Däne“ Matz Matzen, ist heute – auch bei Amrumern – unbekannt!
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Die Familie Matzen wohnte in Norddorf in einem vergleichsweise stattlichen Friesenhaus am Rande der Marsch. Bei der Aufhebung der Feldgemeinschaft im Jahre 1799/1800 und der genauen Zeichnung der Inseldörfer hatte das Haus die Nr. 30 erhalten, die es hinsichtlich der Steuerfestsetzung und anderer behördlicher Aktionen das ganze Jahrhundert behielt. Matz starb am 11. April 1879, seine Frau Ehlken geb. Hanjes am 20. Mai 1899. Und das schöne Friesenhaus brannte am 17. August 1925 ab, zusammen mit neun weiteren Häusern des alten Norddorfs, ausgelöst durch ein Feuer auf dem reetgedeckten „Ambronenhaus“.
Georg Quedens