Es ist kurz nach 19 Uhr, als meine Wanderung auf dem Innenhof des Schullandheims „Ban Horn“ in Norddorf beginnt. Ich habe ein verrücktes Ziel: Bei Niedrigwasser durch das Watt nach Föhr wandern, Föhr umrunden, mit dem nächsten Niedrigwasser wieder nach Amrum zurück und anschließend noch um Amrum herum. Diese Zwei-Insel-Challenge, wie ich sie getauft habe, hat eine längere Geschichte:
Seit vielen Jahren laufe ich mit Ulrike Bock, Hauswirtschafterin in „Ban Horn“, durch das Watt nach Dunsum auf Föhr, eigentlich immer, wenn ich gerade in den Sommerferien auf Amrum bin. Im Laufe der Zeit hat sie dafür eine kluge Taktik ausgetüftelt: Wir gehen abends mit dem Niedrigwasser von Amrum nach Föhr, übernachten dort und wandern am Morgen darauf zurück. So kann Ulrike noch das Abendessen für die Gäste zubereiten, und ist rechtzeitig zum Frühstück wieder in der Küche.
Bei einem dieser Ausflüge hatte ich die Idee, statt auf dem Deich der untergehenden Sonnen zuzuschauen, noch eine kleine Nachtwanderung zu unternehmen und mich morgens für den Rückweg wieder mit Ulrike zu treffen. Aus der Nachtwanderung wurde schließlich eine Föhr-Umrundung.
2022 setzte Ulrike mir dann den „Floh“ ins Ohr, ich könne anschließend noch um Amrum wandern, das Ganze innerhalb von 24 Stunden. Damit war die Challenge beschlossen Sache und ich konnte nicht mehr widerstehen.
Heute sind die Bedingungen perfekt: Es ist warm und wolkenlos und die Nacht soll mild werden. Um 19:45 Uhr geht es durch den Priel an der Odde. Vor uns liegt das trocken gefallen Watt. Nachdem wir die Austern-Bänke umrundet haben, nehmen wir Kurs Richtung Sylt, vorbei am Wrack und dann auf Dunsum. Wir treffen andere Wandernde, die bei den Seehundsbänke waren uns lassen uns kurz auf dem Deich nieder. Ulrike begleitet mich noch ein Stück, dann gehe ich allein weiter. Die ersten Kilometer bis Wyk sind ganz interessant. Erst geht es über den Deich, vorbei am Schöpfwerk nach Untersum und dort an den Strand. Als das Gelände der Klinik hinter mir liegt, fängt es an zu dämmern. Der weiche Strand hat sich inzwischen in eine Kiesellandschaft verwandelt, sodass der Gang langsam zu einer Akupunktur wird und ich mich entschließe, ab jetzt lieber Schuhe anzuziehen. Es geht nun immer geradeaus, vorbei an Hedehusum nach Witsum. Hier kann ich am Strand wegen des Vogelschutzgebietes nicht weiter und muss einen kurzen Umweg zwischen den Feldern im Inselinneren in Kauf nehmen. Inzwischen ist es dunkel, ich weiß, dass ich vor Goting noch zwei Entwässerungsgräben kreuzen, und die beiden Brücken finden muss, aber das ist im Licht des Vollmonds, der im Osten über dem Meer als große gelbe Kugel steht, glücklicherweise nicht schwierig.
Zurück am Strand führt mich mein Weg jetzt weiter nach Wyk. Obwohl es schon spät ist, ist der Strand noch nicht leer: ich komme an diversen Lagerfeuern vorbei, und bei Nieblum habe ich von Weitem schon die Befürchtung die Fackelprozession irgendeiner obskuren Vereinigung zu stören. Als ich näher komme, sind die fackeltragenden Menschen ganz friedlich. Ich gehe weiter. Bei 23,6 km erreiche ich die Wyker Promenade und mache kurz Pause. Viel Zeit darf ich mir nicht nehmen, sonst schaffe ich es beim Rückweg nicht mehr rechtzeitig durch den Priel. Inzwischen ist es zwei Uhr morgens und stockfinster. Mir graut vor der 18 km langen Deichstrecke, die nach dem Hafen vor mir liegt. Außer Schafen kaum Abwechslung. Um 6:00 Uhr treffe ich Ulrike in Dunsum wieder und habe inzwischen 46,5 km zurückgelegt, davon 37,7 km auf Föhr. Zu zweit machen wir uns auf den Rückweg nach Amrum durch das Watt.
An der Odde begegnen wir dem Wattführer Dark Blome, der uns freundlich grüßt und mit einer Gruppe in der Gegenrichtung unterwegs ist. Ulrike muss zum „Ban Horn“, damit die Gäste pünktlich frühstücken können, ich gehe weiter um die Amrumer Odde unter sengender Sonne immer an der Wasserkante nach Wittdün. Weicher, weißer Kniepsand − da kann der Föhrer Strand nicht annähernd mithalten!
Am Kniephaken ist der Weg über das Sandfeld mühsam und treibt mich in die Verzweiflung. Aber dank vieler aufbauender Worte meiner Freundin Kiki, der ich alle fünf Kilometer Positonsdaten und Bilder schicke, denke ich nicht daran aufzugeben und kämpfe mich bis zur Wandelbahn vor. In Wittdün gönne ich mir ein Eis, dann geht es weiter an der Wattseite Amrums. Dieser Teil der Strecke ist leicht: vorbei am Seezeichenhafen erreiche ich über Nebel und Steenodde schließlich Haus Burg bei Norddorf genau bei Kilometer 80. Fast geschafft! Am Teerdeich wartet mein Empfangskomitee um mich das letzte Stück zu begleiten. Als ich um 16:15 Uhr entkräftet im Innenhof von „Ban Horn“ ankomme zeigt der Streckenzähler meines GPS-Gerätes 82,7 km an. Wahnsinn! So viel bin ich nie am Stück gelaufen… Belohnt werde ich mit vielen Glückwünschen und einem großen Teller voller Nudeln. Ich schlafe aber fast beim Essen ein…
Am nächsten Morgen werde ich um kurz vor acht Uhr von der Sonne, geweckt und mache mich auf Schlimmes gefasst. Überraschenderweise habe ich weder irgendwo einen „Muskelkater“, noch andere Probleme.
Hier also endet dieses Abenteuer, das mich zwar an den Rand meiner Leistungsfähigkeit gebracht hat, aber auch glücklich macht. Ohne Ulrike, Kiki und Rebekka, hätte ich diese verrückte Challenge wahrscheinlich nicht geschafft (aber auch nicht in Erwägung gezogen) − ihnen danke ich für ihre Unterstützung und Freundschaft.
Sören Pischel für Amrum-News
Anm. der Redaktion: Wir möchten darauf hinweisen, dass eine Wanderung von Insel zur Insel durch das Watt lebensgefährlich ist. Sören Pischel hat sich Ulrike Bock, eine erfahrene Wattwanderin, dazu geholt. Also wenn Sie ähnliche Aktionen planen, suchen Sie sich einen oder eine erfahrene Wattführerin. Gehen Sie auf keinen Fall alleine durch das Watt.