Bereits in seinem 1936 erschienenen Buch “Das kleine Amrum-Buch” (7. Auflage 1966) stellt der Autor Dr. Rolf Dircksen im Kapitel “Der Kniepsand, Amrums Sandwüste” die folgende Vermutung auf: “Der Sylter Südhaken ist wahrscheinlich durch eine entsprechende südwärts gerichtete Meeresströmung aufgeschüttet. Sie verfrachtet vielleicht auch Sylter Material in die Gegend der Amrumer Sandbänke. Von hier drängt dann die von Westen kommende Flutwelle den Sand gegen die Amrumer Küste, wo er nun zur Bildung des Kniepsandes dienen mag. Im Groben gesehen, ist also der Vorgang wahrscheinlich so, daß die Brandung vor Sylt Material wegreißt, die Strömungen es nach Amrum spülen und es hier wieder als Kniepsand anhäufen”.
Erst kürzlich wurde diese These in einem Artikel im Insel-Boten wieder aufgegriffen, und auch sonst wird sie immer gerne in Rundfunk und Fernsehen – auch von Syltern selbst – dem Publikum zu Gehör und Gesicht gebracht, sobald sich die Medien mit den Küstenschutzproblemen von Sylt befassen, weil sie nach dem Blick auf die Landkarte logisch erscheint. Aber sie ist nicht wahr!
Die Gezeiten- bzw. Flutwelle kommt nämlich von Südwesten. Sie läuft vom Atlantik an der schottischen und englischen Ostküste herunter, wird von den großen und kleinen Westfriesischen Inseln und von der Ostfriesischen Inselkette reflektiert und kommt über Helgoland und aus Richtung Eiderstedt nach Amrum und Sylt. Beispielsweise hat die Amrumer Südspitze mit Wittdün über eine Stunde früher Hochwasser als Hörnum-Sylt. Und selbst die Reihe der Seesände nordwestlich von Amrum (Jungnahmen, Teeknob, die Holtknobber und Hörnum Sand) vermittelt den Eindruck, dass die Sandmassen dieser Seesände durch eine von Sylt aus südwärts gerichtete Gezeitenströmung entwickelt wurden.
Besonders nach Beginn der Sandaufspülungen im Jahre 1976 an der Sylter Nordseeküste verstärkte sich die Ansicht, dass die von der Nordsee wieder abgebauten Sandmassen (so dass regelmäßig neue Sandvorspülungen notwendig sind) zu den Seesänden vor Amrum und von dort hinüber nach Amrum vertrieben werden. Dies hält aber den Fakten nicht stand. John Willuhn, langjähriger Mitarbeiter des damaligen Marschenbauamtes, später Amt für Land und Wasserwirtschaft, weist darauf hin, dass den Seesänden der Sand keineswegs von Sylt zugeführt wird, denn seit “Menschengedenken” werden die Seesände vor Amrum durch die Nordsee abgebaut! Lagen sie vor 50-70 Jahren noch meterhoch über dem mittleren Hochwasser, so tauchen sie jetzt nur noch bei Niedrigwasser auf. Insbesondere der einst mächtige Jungnahmensand wurde soweit abgebaut und an Fläche reduziert, dass er auch als Geburtsplatz für Kegelrobben nicht mehr brauchbar ist. Die Kegelrobben sind zur Düne vor Helgoland abgewandert, wo ihre Jungen zwischen November und Januar geboren werden und in den ersten Lebenswochen trocken liegen müssen. Aber auch die anderen Seesände sind stark abgebaut – sie profitieren nicht mit einem Sandkörnchen von den Sandvorspülungen auf Sylt.
Ein anderes, deutliches Zeichen dafür, dass dieser Sand für die Seesände und für den Amrumer Kniep keine Rolle spielt, ist die Eigenschaft des Sylter Sandes, der Kilometer vor der Insel vom Meeresgrund mit Hopperbaggern aufgenommen wird und deutlich grobkörniger ist als der feine Sand des Kniepsandes und der Seesände.
Deutliche Zeichen für die in der Nordsee kreisende, von Südwesten heranfließende Gezeitenwelle sind auch die Seesände vor den Halligen, Süderoog-, Norderoog- und Jappsand, von denen der Süderoogsand an Fläche durchaus mit dem Amrumer Kniepsand konkurrieren kann. Diese so genannten “Außensände” sind ein eindrucksvolles Beispiel für die Mächtigkeit der Sandzufuhr aus Südwesten, nicht von Norden, nicht von Sylt!
Auch würde über das mächtige Vortrapptief zwischen Amrum und Sylt kein Sand nach Amrum gelangen!
Amrum – Geliebte des Blanken Hans
Südlich von Amrum lag bis um das Jahr 1900 als Ausläufer der Hallig-Außensände eine mächtige Sandbank, “Seesand” genannt, die noch Mitte des 19. Jahrhunderts einen Umfang von “2 Stunden” hatte und auf dem Zehntausende von Seevögeln (wahrscheinlich Brandseeschwalben) brüteten, so dass man einen Fuß nicht vor den anderen setzen konnte. Auf dem Seesand war im Jahre 1801 als Sichtmarkierung eine mächtige Bake aufgebaut worden, die 1839 auf halber Höhe einen Rettungsraum für Schiffbrüchige mit Notsignalen, Proviant und Schlafkojen erhielt. Aber die Nordsee begann, den Seesand abzubauen, und im Jahre 1903 hieß es in einer Bekanntmachung für Seefahrer, dass die Bake nebst Sandbank nunmehr völlig verschwunden sei. Die nordöstliche Gezeitenströmung hatte die Sandbank zum Kniepsand nach Amrum verlagert. Damals lag der Kniep noch mit einer großen Fläche an der Amrumer Südwestküste zwischen Wriakhörn und Höhe Satteldüne und zog sich in einem langen Nehrungsarm bis hinauf nach Norddorf. Zwischen diesem Nehrungsarm und der Inselküste lag der “Kniephafen”, der bis hinunter zur Satteldüne reichte und so tief war, dass hier Amrumer Schiffe im Winter zur Ruhe lagen, Austernkulturen betrieben wurden und in der Gegend der heutige Strandhalle Nebel 1865 die erste Station der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) eingerichtet wurde, die aber schon wenige Jahre später nach Norden bis zum Inselbogen Hörn verlegt werden musste, weil der Kniephafen von Süden her versandete. Die Station musste in den Folgejahren noch weitere Male nach Norden verlegt werden, ebenso die Dampferbrücke für den Seebäderverkehr zwischen Hörnum und Hamburg, weil der Kniephafen schließlich bis Mitte des 20. Jahrhunderts völlig zugesandet war. Eine fast übermächtige, unfassbare Sandzufuhr durch die Nordsee, von Süden her – nicht von Sylt!
Wie dynamisch diese Sandzufuhr unverändert ist, beweisen die Entwicklungen der Gegenwart. Ende des 20. Jahrhunderts veränderten sich die Strömungsverhältnisse vor der Norddorfer Küste derart, dass der Kniep in wenigen Jahren durch die Nordsee bis an die unmittelbare Inselküste abgebaut wurde, die Buhnen und Brückenreste des vorigen Jahrhunderts wieder sichtbar wurden und das Jugendheim Ban Horn in Gefahr geriet und ein umfangreicher Küstenschutz durch Sandvorlagerung nötig wurde. Es dauerte aber nur wenige Jahre, und der Kniep begann sich wieder zu verbreitern, und zwar von Süden her – nicht mit Sand von Sylt!
Gleichzeitig erlebt die Insel Amrum im Südwesten der Insel seit Mitte des vorigen Jahrhunderts eine fast unvorstellbare Sandzufuhr aus der südwestlichen Nordsee. Mächtige hohe Dünen wachsen auf dem Strand von Wriakhörn und der Satteldüne auf, und ebenso bilden sich auf dem Kniep, besonders vor Wittdün, haushohe ausgedehnte Dünenzüge und lokale Dünenkomplexe, so dass Amrum sich in wenigen Jahren um Quadratkilometer vergrößert hat. Gegen das Meer und gegen die in den Medien verbreiteten Panikmeldungen. Auch am Wattufer ist die Insel – allerdings durch menschliche Maßnahmen, Landgewinnung durch Buhnenanlagen – um einen halben Quadratkilometer mit Salzwiesen gewachsen.
Aber das alles ohne Sylter Sand!
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