Das sterbende Haus

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Am Strunwai, der Strandstraße von Norddorf, steht inmitten geschäftigen Saisontreibens ein Haus und stirbt vor sich hin. Von Gitterzäunen eingeschlossen, die Zugänge von der Baubehörde gesperrt, ist das Haus für einsturzgefährdet und unbewohnbar erklärt, und die aufgeplatzten Wände und herausfallenden Ziegel bestätigen die amtliche Maßnahme.

Strandweg Norddorf um 1900 – Häuschen rechts Albert Jensen, hinten Seehospiz II und Förstervilla

Aber die Stätte des Hauses und die ehemalige Villa haben eine interessante Geschichte. Fotos aus der Zeit um 1900 zeigen den sandigen “Strandweg” von Norddorf hart am damaligen Dünenrand. Am Weg drei kleinere Friesenhäuser, in der Mitte jenes des Seefahrers und Tagelöhners Albert Jensen. Albert wurde im Juli 1800 in Borgsum auf Föhr geboren, hatte 1833 Pöpke Nahmens aus Norddorf geheiratet und war nach Amrum gezogen. Nach dem Tod seiner Frau 1848 heiratete Albert Anna Maria Andresen aus Borgsum, die zwei uneheliche Söhne mit in die Ehe brachte.

Anfang des 19. Jahrhunderts waren auf Amrum an der Küste bescheidene Häuser für die “Seuchenwache” errichtet worden. Hier saßen jeweils zwei Männer, um zu verhindern, dass über den Strand, tot oder lebendig, Seeleute mit exotischen Seuchen an Land kamen. Als die Wache in den 1840er Jahren aufgelöst wurde, erwarb Albert Jensen das Wachhaus in Fleegham und versetzte es an den Norddorfer Strandweg. Albert machte noch einige Male “Geschichte”.

Der seltsame Tode des Vogtes Hinrich Quedens

Albert Jensen hatte Probleme mit dem Alkohol und mit dem Bauern- und Strandvogt Hinrich Quedens. Er beschloss deshalb ein Attentat, schlich mit seinem alten Vorderlader zum Haus des Vogtes (heute Pension Flor) und feuerte eher ungezielt auf das Dach. Vom Knall erschreckt, fiel der Vogt aber von der Ruhebank und starb, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben, in den Armen seiner zweiten Frau Wehn, geb. Flor. Albert kam in das Gefängnis der Birk Westerlandföhr-Amrum in Nieblum. Aber das Gericht konnte keinen unmittelbaren Zusammenhang des Schreckschusses mit dem Tod des Vogtes feststellen, und Albert durfte ungestraft nach Norddorf zurückkehren. Als dann am 3. Dezember 1863 auf einem Seesand vor Norddorf die Rostocker Bark “Horus” ohne Besatzung strandete und eine besonders hohe Bergungsprämie versprach, gehörte Albert Jensen zu den neun Männern, die bei einem todesmutigen Bergungswettlauf ihr Leben verloren.

Das ärmliche Haus am Norddorfer Strandweg fand keinen Nachfolger. Einer der Söhne von Albert Jensen, Nahmen, wurde ein geachteter Steuermann Großer Seefahrt und siedelte sich in Nebel an. (Hier führte er in der Schule im Jahre 1871 das altfriesische schiffsmastähnliche Weihnachtsbaumgestell ein.)

Mina Quedens, geb. Schau – Erbauerin der Villa

Der Bauplatz am Strandweg wurde von der Witwe Mina Quedens erworben. Mina wurde am 20. Dezember 1857 in Nebel geboren und war eine Tochter des Kapitäns Großer Fahrt, Anton Schau. 1876 heiratete sie den Schiffer Martin Hinrich Quedens und erlebte ein höchst unglückliches Familienleben. Von den sieben Kindern der Ehe starben fünf, einige unter dramatischen Umständen im Kindesalter. Und der Ehemann starb 1903 im Irrenhaus in Schleswig. Aber Mina war eine ungewöhnliche Frau, die sogar mit der Prinzessin Irene Heinrich korrespondierte, nachdem diese mit Familie in den ersten 1890er Jahren mehrere Sommerurlaube im Seehospiz I von Pastor Bodelschwingh verbrachte. Der Nachwelt blieb Mina auf vielen Fotos in Friesentracht erhalten.

Es ist ein Rätsel, woher Mina die finanziellen Mittel hatte. Sie erbaute im Jahre 1910 als elegante und aufwendige Villa am Norddorfer Strandweg das Haus, das jetzt im Sterben liegt. Um dieselbe Zeit herum entstand nach der Entwicklung Norddorfs zum Seebad unter Führung der Bodelschwinghschen Seehospize die heutige “Hauptstraße” mit den Geschäften, dem Hotelkomplex von “Seeblick” und den Ferienhäusern, und aus dem sandigen, verschlungenen Norddorfer Strandweg war längst die gepflasterte Strandstraße geworden, später auf den inselfriesischen Namen “Strunwai” getauft.

Die Villa des Inselarztes
Mina wollte oder konnte ihre Villa jedoch nicht behalten und verkaufte sie nach dem 1. Weltkrieg an Dr. Noltenius, einen Arzt, der sich in Norddorf niederließ. Das Gemeinderatsprotokoll verrät unter dem Datum vom 25. Juni 1919: “(…) die Übertragung des an Herrn Dr. (Johannes) Ide jährlich gezahlten Fixums an Dr. Noltenius, jährlich 800 Mark, zahlbar in vierteljährlichen Raten. Bedingung: Führen einer Hausapotheke und Vertretung bei Abwesenheit.” Am 14. Mai 1920 wurde das sogenannte “Wartegeld” für den Inselarzt auf Antrag von 800 auf jährlich 1200 Mark erhöht.

“Strand-Bazar” und Villa Mina Quedens um 1910 bis heute

Noltenius soll ein beliebter Arzt gewesen sein. Er vertrug sich aber offenbar nicht mit Johannes Ide, dem vorherigen Inselarzt. Dieser war im Jahre 1897 als Arzt für das Warmbadehaus neben dem Seehospiz I engagiert worden, erbaute aber im Jahre 1905 in Nebel ein eigenes “Nordsee-Sanatorium” (heute Amrum Touristik der Gemeinde Nebel) und war offenbar auch noch als Arzt auf der übrigen Insel tätig. Nach damaligen Erzählungen soll er dabei sehr robust gegen seinen Kollegen und Mitbewerber Noltenius vorgegangen sein und dabei, zusammen mit seinen Söhnen, auch seine Stellung in der nationalsozialistischen Stimmung (die in Nebel besonders intensiv war) ausgenutzt haben. Jedenfalls ist von Dr. Noltenius Anfang der 1940er Jahre keine Rede mehr.

Flüchtlinge von Helgoland – Oma Mohr droht einem britischen Bomber

Während des 2. Weltkrieges ziehen neue Bewohner in die gekaufte(?) oder gemietete Villa ein, gekommen von Helgoland, wo sie ein Hotel betrieben hatten und durch britische Luftangriffe ausgebombt worden waren. Es ist das Ehepaar Henny und Harlich Bufe mit Hennies Mutter, als Witwe immer ganz in schwarz gekleidet und von allen nur “Oma Mohr” genannt.

In den weiteren Kriegsjahren und aufgrund der zunehmenden Überlegenheit der alliierten Luftstreitkräfte füllten sich die Tage und Nächte über Amrum immer mehr mit Gebrumme. Am Tage zogen die amerikanischen Bomberflotten mit Kondensstreifen hoch am Himmel vorbei, so hoch, dass die Flak auf Hörnum mit ihren Geschossen nicht mehr hinaufreichte. In der Nacht hörte man das “uhle-uhle-uhle” britischer Bombermotoren. Deshalb wurden die Briten von uns Dorfkindern “Uhle-Bomber” genannt.

Ganz vereinzelt wurde auch Amrum direkt berührt, wenn sich angloamerikanische Flieger bei der Bombardierung im Deutschen Reich verspätet hatten oder beschädigt waren. Beispielsweise rasten am 16. April 1941 vier britische Blenheim-Bomber am hellichten Tag über Amrum und entledigten sich ihrer Restladung an Bomben, wobei Häuser in Wittdün (“Brandenburg”, Breckwoldt) und in Nebel (Pastorat, Villa Kröhnert, das heutige Friesencafé) zum Teil vollständig in Trümmer fielen.

Besonders eindrucksvoll war auch der Überflug eines Fortress II-Bombers am 9. April 1944. Das riesige viermotorige Flugzeug war auf dem Rückflug nach England und schlich im Tiefflug über das Watt zwischen Föhr und Amrum, drehte um die Odde und flog dann ganz niedrig, keine 30 Meter hoch, über den Norddorfer Strand, offenbar um der Flak auf Hörnum zu entkommen. Es war eine mächtige Erscheinung, und dem Verfasser, damals ein zehnjähriger Knabe, fiel vor Angst fast das Herz in die Hose. Und dann begann dieses Ungetüm zu feuern, so laut und nachhaltig, dass in den Seehospizen, im Hotel Seeblick der Familie Hinrichs und in den Häusern an der Strandstraße, darunter das Elternhaus, Wände und Fenster wackelten. Später erfuhren wir, dass Oma Mohr, wie üblich am Strande spazierengehend, dem dicht über ihrem Kopf hinwegrasenden Ungetüm mit ihrem Gehstock gedroht hatte und der Bordschütze deshalb eine Maschinengewehrsalve abgefeuert hatte. Oma Mohr wurde allerdings nicht getroffen und kehrte unversehrt in das Dorf zurück. Und ebenso gelang dem Flugzeug auch die Flucht zurück nach England. Die Besatzung wird sich nicht wenig über die schwarzgekleidete Oma mit ihrem Stock gewundert und im britischen Fliegerhorst für Gespräche gesorgt haben.

Harlich Bufe, geboren 1881, führte in Norddorf ein eher zurückgezogenenes Leben. Aber seine Frau Henny, Jahrgang 1913 und rund 30 Jahre jünger als ihr Ehemann, richtete im Haus einen Frauenkreis für Handarbeiten ein und beschäftigte so etliche Frauen, deren Männer irgendwo an der Front oder schon gefallen waren. Aber im Jahre 1950 starben beide Eheleute, zuerst am 14. Februar Henny und am 17. November Harlich, der sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hatte. Kinder wurden in der Ehe nicht verzeichnet.

Familie Flor übernimmt dass Haus
Oma Mohr wohnte nun allein in dem großen Haus mit dem riesigen Garten. Aber nicht lange. 1961 übernahm Kurt Flor die Villa auf Leibrente und Oma Mohr zog später zu ihren Verwandten nach Kellinghusen. Hier ist sie auch gestorben.
Kurt Flor richtete in einer Stube die Raiffeisenbank Norddorf ein und baute 1952 den Laden an, um dort einen Buch- und Kunstgewerbehandel zu betreiben (“Friesische Heimkunst”). 1968 konnte der Ladenanbau noch wesentlich vergrößert werden. Zwei Söhne wurden dem Ehepaar geboren. Der Name Kurt begründete sich übrigens auf die Verwandschaft mit Wilhelm Tönissen, der als Kapitän mit der Viermastbark “Kurt” Rekordfahrten um Salpterfrachten zur Westküste von Südamerika gemacht hatte. Aber auch Ehefrau Christine stammte aus einem Seefahrerhaus. Ihr Vater Carl Jessen war ebenfalls Kapitän Großer Fahrt in Diensten der Hamburger Reederei Laeisz.
Wer auf Amrum Flor heißt, führt seinen Stammbau zurück auf Martin Flor (1598 – 1686), der als Pastor über Nordmarsch-Langeneß im Jahre 1629 nach Amrum kam. Der Legende nach war der Urahn im 13. Jahrhundert Falknermeister bei König Friedrich II, belegt durch die frühe Verwendung eines Wappens mit einem Greifvogel und dem Namen Flor.

Dieses Wappen ziert auch den Balkon des nun sterbenden Hauses an der Strandstraße von Norddorf – eine Erinnerung an die Legende um den Falknermeister Flor am Hofe des Stauferkaisers, der von 1220 bis 1250 das römisch-deutsche Reich regierte und ein Liebhaber der Beizjagd war und darüber sogar ein Buch geschrieben hat.

2024 Georg Quedens     Urheberrecht beim Verfasser

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