Anfang der 1960er Jahre lebte ich mit meinen Eltern in Frankreich. Mein Vater war Berufssoldat und war in dieser Zeit im NATO-Hauptquartier im Schloss von Fontainebleau, ca. 60 km südlich von Paris, stationiert. Meine Grundschulzeit (5 Jahre!) verbrachte ich dort in der „École Internationale“, in die alle Kinder der Soldaten der Länder, die damals NATO-Mitglieder waren, gingen. Vormittags gab es Unterricht in der jeweiligen Muttersprache, nachmittags wurden alle auf französische Klassen verteilt, mit deren Schülern es zusammen dann in der Landessprache weiterging. Die Unterrichtszeiten waren dem französischen Schulsystem angepasst, es ging an fünf Tagen in der Woche ganztags in die Schule. Statt Samstags war der Donnerstag frei. Zu Ostern und Weihnachten war die Schule nur an den Feiertagen geschlossen, dafür gab es im Sommer ganz lange Schulferien, nämlich die gesamten Monate Juli und August!
Anfänglich wohnten wir etwas außerhalb im Haus einer französischen Familie, direkt an der Mauer die den riesigen Schlosspark umrahmte. Das Schloss von Fontainebleau war der erste Renaissancebau in Frankreich und ist sehr geschichtsträchtig. König Ludwig der XIV. (der „Sonnenkönig“, *1638, †1715), der im Versailles regierte, nutze es jedes Jahr im Herbst als Jagdschloss. Im April 1814 dankte hier Napoleon Bonaparte gemäß dem „Vertrag von Fontainebleau“ ab und wurde auf der prachtvollen Eingangstreppe von seiner Garde verabschiedet, bevor er nach Elba verbannt wurde. Von 1949 bis 1966 war das Schloss NATO-Hauptquartier des „Allied Forces Central Europe“ (AFCENT). Seit 1981 ist es Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.
Die Zeit in Frankreich war für mich sehr prägend. Von anfänglichen durchaus noch bestehenden Ressentiments der Franzosen gegenüber den Deutschen (so wurde meine Mutter auch schon mal beim Kaufmann nicht bedient, wenn bemerkt wurde, dass sie Deutsche war), bis hin zu Verbrüderungsszenen in Sinne der heute groß geschriebenen deutsch-französischen Freundschaft (als mein Großvater zu Besuch war und wir mit ihm die Schlachtfelder von Verdun besucht haben, wo er im 2. WK stationiert war, und ihm ein französischer Veteran mit nur einem Arm mit den Worten „Dieu merci, nous sommes amis aujourd´hui“ (Gott sei Dank sind wir heute Freunde ) um den Hals gefallen ist, als er feststellte, dass er zur gleichen Zeit wie mein Großvater hier gekämpft hatte, habe ich die ganze Bandbreite französischen Empfindens der damalige Zeit erfahren.
Während es meinen Eltern, zumindest am Anfang, recht schwer gefallen ist, die französische Sprache zu erlernen, hatte ich es wesentlich leichter, waren doch viele meiner Spielkameraden aus der Nachbarschaft Franzosen und so konnte ich bald recht gut französisch verstehen, sprechen, lesen und schreiben. Oftmals diente ich meiner Mutter als „Übersetzer“, z. B. beim Einkaufen. Ich habe dann später immer behauptet, dass ich, als wir 1965 wieder nach Deutschland gezogen sind, für den Stand eines 11-jährigen perfekt Französisch gesprochen habe. Manchmal habe ich sogar auf Französisch geträumt. Später dann, in der Oberstufe an einen Gymnasium in Köln, hatte ich Französisch auch als Leistungskurs, wobei ich recht schnell feststellen musste, dass gut reden können nicht alles ist. Mit der Grammatik hatte ich zunächst doch so meine Probleme. Mein Französischlehrer war „ne echte kölsche Jung“, der zu mir sagte: „Peter, im Sprechen steckste mich in de Täsch. Aber die Grammatik!“
Was mir sehr geholfen hat die französische Sprache zu erlernen, war ein Weihnachtsgeschenk meiner Eltern. Ich weiß nicht mehr ganz genau ob es Weihnachten 1962 oder 1963 war, als ich meine ersten beiden Comic-Alben, natürlich auf Französisch, bekam. Es waren die Bände „Le Secret de la Licorne“ und „Le Trésor de Rackham le Rouge“ aus der Reihe „Les Aventures de Tintin et Milou“ von Hergé. Auf Deutsch: „Das Geheimnis der Einhorn“ und „Der Schatz Rackhams des Roten“ aus den „Tim und Struppi“ – Büchern. Diese Bände erschienen im Original bereits 1943 bzw. 1944, waren also schon „Klassiker“ als ich sie zu lesen bekam. Ich bin davon überzeugt, dass mir das Lesen dieser Bildergeschichten sehr beim Erlernen der Sprache geholfen hat. Auch wenn so mancher Satz in den Sprechblasen vielleicht nicht gleich zu verstehen war, so konnte ich mir vieles dann auf Grund der dazugehörigen Handlung die in den Zeichnungen dargestellt sind, herleiten. Aber es waren halt „gesprochene Sätze“, die ich dann auch angewendet habe. Und die Grammatik hat oftmals nicht dem Anspruch eines deutschen Oberstufenfranzösischlehrers entsprochen (siehe oben).
Diese beiden Bände, die den Beginn meiner Comicsammlung bedeuteten, sind heute noch in meinem Besitz. Auch wenn sie im Laufe der Zeit etwas gelitten haben (immerhin haben sie 10 Umzüge überstanden bis sie auf die Insel Amrum kamen), hüte ich sie wie einen Schatz. Bald kamen noch viele andere Bände von „Tintin et Milou“ hinzu, oftmals bekam ich sie geschenkt oder aber ich kaufte sie mir selbst, als ich die finanziellen Mittel dazu hatte. Insgesamt sind 24 vollendete und eine, bedingt durch das Versterben des Autors, unvollendete Geschichten um Tim und Struppi erschienen und ich habe sie alle, z. T. auch in beiden Sprachen, Französisch und Deutsch.
Tim und Struppi ist sicherlich eine der bedeutendsten europäischen Comicserien, die längst nicht nur Kinder und Jugendliche erfreut haben und noch erfreuen, auch wenn der Autor für die Verwendung rassistischer, kolonialistischer und antikommunistischer Klischees, v. a. in seinen früher Werken (z. B. Tim im Lande der Sowjets, Tim im Kongo oder Tim in Amerika) , kritisiert worden ist. Später begleiten Tintin und sein treuer Hund Milou bei seinen Abenteuern neben anderen Gestalten regelmäßig der oft polternde und fluchende „Capitaine Haddock“ (Kapitän Haddock), die beiden tolpatschigen Geheimpolizisten „Dupond et Dupont“ (Schulze und Schultze) und der schwerhörige Wissenschaftler “Professeur Tournesol“ (Professor Bienlein). Eine Kombination unterschiedlichster Charaktere, die mich auch heute noch zum Lachen bringt.
Bekannt ist Hergé auch für seine Präzision beim Anfertigen der Bilder. So hat er beispielsweise für Geschichte „Vol 714 pour Sydney“, erschienen 1968, stundenlang an einem Flughafen verbracht um den Verschlussmechanismus der Bordtür eines damaligen Passagierflugzeuges so genau wie möglich zu zeichnen. Und die in den jeweiligen Abenteuerbänden gezeichneten Automobile entsprechen genau den Modellen wie sie zu dieser Zeit auf den Straßen zu sehen waren. Das Schloss, in dem Kapitän Haddock und Tim und Struppi seit dem Band um den Schatz Rackham des Roten leben, gibt es auch in Wirklichkeit. Es ist das Schoss Cheverny an der Loire, dass in den Comics auch detailgetreu gezeichnet ist, nur die beiden Seitenflügel hat Hergé weggelassen. Natürlich habe ich mich während meiner Reisen in Frankreich persönlich davon überzeugt, dass Cheverny tatsächlich als Vorlage für die Zeichnungen gedient hat.
Der Belgier Hergé schrieb und zeichnete diese humoristischen Abenteuercomics von 1929 bis zu seinem Tod 1983. Das Pseudonym „Hergé“ legte sich der Autor Georges Remi zu indem er es aus seinen französisch ausgesprochenen und umgedrehten Anfangsbuchstaben seines Namens, R und G, bildete. Er verfügte, dass nach seinem Tod diese Comicreihe eingestellt werden muss, daher sind nach 1983 nur noch die Skizzen zur unvollendeten Geschichte „Tintin et l´Alph-Art“ erschienen.
Es gab während meiner Frankreichzeit noch andere Comichelden, für die ich mich auch interessierte. „Spirou und Fantasio“ mit dem „Marsupilami“ beispielsweise. Und da ich schon als Kind eine „Leseratte“ war, und ich bald alle Tintins nahezu auswendig kannte, wurde auch die franko-belgische Reihe „Spirou“ in meine Sammlung aufgenommen. Auch hier sind die bis heute immer noch erscheinenden Bände, je nach Autor und Zeichner, von äußerster darstellender Präzision, nicht nur was die Zeichnungen angeht, auch in der Sprache. Jede Sprache verändert sich im Laufe der Zeit, v. a. die Jugendsprache ist auch im Französischen für mich oftmals nicht mehr verständlich, und so habe ich mir zu manchen der französischen Comicbände auch die deutsche Fassung, quasi als Übersetzer, angeschafft.
Während meiner Gymnasialzeit tauchte dann plötzlich noch ein weiterer Comic-Held auf: „Asterix“ und seine Kumpane. Obwohl die erste Asterix-Geschichte bereits 1959 erschien, war es in meinem Freundeskreis erst Anfang der 1970er Jahre „in“ diese Comics zu lesen. Natürlich habe ich auch hier viele Bände auf Französisch. Und „Asterix – Tour de France“ war in der Oberstufe tatsächlich auch mal ein kurzzeitiges Thema in meinem Französischkurs!
Immer wieder mal hole ich, v. a. die französischen Comics, aus dem Regal und lese sie. Das hilft mir einigermaßen dabei meine Französischkenntnisse nicht ganz zu verlieren, habe ich mittlerweile doch sonst nur wenig Möglichkeiten diese anzuwenden.
Während meiner Frankreichzeit zwischen 1960 und 1965 habe ich mit meinen Eltern fast ganz Frankreich bereist. Nach dem Abitur, als Student, später auch mit meiner Familie und den Kindern oder auch alleine, bin ich immer wieder in Frankreich auf Reisen gegangen und habe mit stets als „Mitbringsel“ einen weiteren Band für meine Comicsammlung mitgebracht. Später dann, mit der elektronischen Revolution und der Möglichkeit nahezu alles im Internet bestellen zu können, habe ich die neu erscheinenden oder mit noch fehlenden Bände von „Tintin“, „Spirou“ (und „Le Petit Spirou“) sowie Asterix eben „online“ bestellt. Noch heute sehe ich ab und zu nach, ob wieder etwas Neues erschienen ist. Mittlerweile umfasst meine Sammlung über 300 Comics, wobei ich klar feststellen muss, dass das, was in den letzten 20 bis 30 Jahren hier erschienen ist, längst nicht mehr an meine Alben der 60er und 70er Jahre heranreicht. Das mag aber daran liegen, dass sich die Zeiten eben ändern und ich doch deutlich älter geworden bin.
Über 60 Jahre ist nun dieses, für mich prägende Weihnachtspräsent nun in meinem Besitz, das ist doch für ein derartiges Geschenk rekordverdächtig, oder?