Meine beste Freundin war katholisch. Zu ihr kam am frühen Nachmittag das Christkind. Für mich hieß es noch zu warten, denn uns brachte die Geschenke der Weihnachtsmann – und zwar immer erst, wenn es dunkel war. Nach dem Kaffee machte unser Familie einen ausgiebigen Weihnachtsspaziergang, immer dem nördlichsten Stern am Himmel nach, auf der Suche nach dem Weihnachtsmann. Auf dem Heimweg freuten wir uns über die hell erleuchteten Tannenbäume überall in den Fenstern, und an unserer Tür hing eine glitzernde Kleinigkeit. Ein deutliches Zeichen, dass der Weihnachtsmann inzwischen gekommen war und wir nicht mehr lange warten mussten, bis das Glöckchen klingelte und wir in die Weihnachtsstube durften.
Diese Weihnachtstradition haben wir fortgeführt. Aber als unser Sohn ins Vorschulalter kam, beschwerte er sich auf dem Spaziergang: „Immer kommt der Weihnachtsmann, wenn wir gerade weg sind. Ich will nicht mehr spazieren gehen. Ich will zuhause warten, bis er kommt.“
„Oh je“, dachten mein Mann und ich, das wird schwierig.
Wir liefen gerade an der völlig ausgestorben daliegenden Hauptstraße entlang und haderten, welche Konsequenzen dieser Protest für die kleine Schwester wohl nach sich ziehen könnte, da sauste plötzlich ein weißer VW-Golf heran. Der Fahrer bremste mitten auf der leeren Kreuzung, riss die Tür auf und sprang aus dem Auto. Es war der Weihnachtsmann in voller Montur! Er drückte unseren erstaunten Kindern zwei goldene Schokoladenteile in die Hand und sagte: „Fröhliche Weihnachten, Kinder! Tut mir leid, ich muss weiter, es warten noch andere auf mich“. Und weg war er. Wir konnten kaum fassen, was geschehen war!
Im Folgejahr gingen die Kinder am Heiligabend erwartungsvoller denn je mit uns spazieren, aber den Weihnachtsmann fanden wir nicht. Wieder einmal war er gekommen, als wir gerade unterwegs waren. Dann zogen wir um, und unser Sohn kam in die Schule.
Wir wohnten nun in einem modernen Wohnkomplex mit vielen Kindern, und unsere Beiden fingen an, lesen durch schreiben zu lernen, die kleine Schwester gleich mit. Das phänomenale Ereignis des vorletzten Jahres war zwar nicht wegzudiskutieren, aber die Zweifel wuchsen gewaltig, genährt von den großen Geschwistern der Klassenkamerad:innen. Glücklicherweise kam uns der schwedische Schriftsteller Sven Nordqvist mit seiner wunderbaren Geschichte „Morgen, Findus wird‘s was geben“ noch rechtzeitig zu Hilfe.
Doch am Heiligabend regnete es, und unsere Beiden schauten äußerst missmutig aus dem Fenster. Sie wollten nicht raus, schon gar nicht bei diesem Wetter. „Wenigstens die Bratäpfel kurz verdauen“, sagte ich in Sorge um meinen gut geplanten Zeitablauf. Einhelliges Murren aus dem Kinderzimmer, plötzlich ein Schrei: „Der Weihnachtsmann!!!!“ In Windeseile hatten die Beiden ihre Stiefel an und rannten mit offener Jacke die Treppe runter. Mein Mann und ich verblüfft hinterher. Die Kinder waren schon draußen und warteten.
„Der Weihnachtsmann ist da ins Haus reingegangen“, flüsterte unser Sohn, „vielleicht kommt er gleich raus und geht zu uns“. Er kam aber nicht wieder heraus, und so begaben wir uns auf die Suche. Wir bestaunten die vielen Weihnachtsbäume in den Fenstern und, siehe da, als wir von unserem kurzen Spaziergang um den Block zurückkehrten, hing etwas Glitzerndes an unserer Tür, und in der neuen Wohnung lag ein prall gefüllter Jutesack. Wie konnte das sein? Wir zündeten die Kerzen am Baum an, und das Glöckchen läutete wie immer die Bescherung ein.
Es wurde Frühjahr… Unser Sohn kam aus der Schule nach Hause und fand im Hausflur unter den Briefkästen ein zerknittertes Schreiben im Papierkorb, das jemand entsorgt hatte. Zusammen mit seiner kleinen Schwester entzifferte er den Text. Es ging um Weihnachten. Am unteren Rand – zum Abreißen – fand sich gleich mehrfach dieselbe Telefonnummer und der Vermerk „Weihnachtsmann“. Da ein Abschnitt mit der Nummer abgerissen war, schlussfolgerten unsere kleinen Meister-Detektive: „Das muss die Telefonnummer vom Weihnachtsmann sein!“ Es brauchte sämtlichen Mut für die Beiden, dann stand ihr Entschluss fest: Anrufen! Die mutige, kleine Schwester sollte telefonieren, der große Bruder die Nummer wählen. Wenn nur diese Aufregung nicht wäre! Er soufflierte: „Frag ihn, ob er der Weihnachtsmann ist.“ Prompt hörte ich am Telefon unsere Kleine fragen: „Bist du der Weihnachtsmann?… Wirklich?… Kommst Du nächstes Mal auch zu uns?“ Sie legten schnellstens auf und vermeldeten: „Das war der Weihnachtsmann! Das ist wirklich seine Telefonnummer! Er kommt zu uns, wenn Du ihn anrufst, Mama!“
Einige Tage später trennten sie alle „Weihnachtsmann + Telefonnummer“-Schnippel vom Brief ab, schrieben sie zusätzlich dutzendfach ab und verteilten die Telefonnummer flächendeckend in der Schule, einhundertprozentig überzeugt: „Das ist die Telefonnummer vom Weihnachtsmann! Wir haben selbst mit ihm gesprochen.“ Der geistesgegenwärtige junge Mann dürfte sich über die vielen Anrufe im Frühling gefreut haben!
Im Jahr darauf feierten wir bei meiner Schwester mit ihrer Familie. Sie hatte einen Weihnachtsmann engagiert, der klingelte, als wir vom Spaziergang zurück waren. Es wurde ein einschneidendes Erlebnis: Bis heute sind unsere Kinder davon überzeugt, dass dieser Weihnachtsmann ihr Ex-Onkel gewesen sei und kein Student, wie meine geschiedene Schwester jedes Jahr wieder versichert.
Inzwischen sind unsere Kinder längst erwachsen, und selbst unser Enkel hegt am Weihnachtsmann handfeste Zweifel, doch unser Weihnachtsspaziergang lebt weiter. Noch heute gehen wir alle zusammen am Heiligabend raus, bis es dunkel wird und suchen den Polarstern, den hellsten Stern am Kleinen Wagen. Letztes Jahr fragte mich meine Tochter zum ersten Mal, wie wir das damals eigentlich gemacht hätten mit dem Sack und so. Ich sagte: „Wir hatten doch immer nette Nachbarinnen.“ Mich traf ein fröhlicher, leicht erstaunter Blick: „Ach, so!“