Eine weitere Empfehlung aus der Amrum News Redaktion, die sich wunderbar zu Weihnachten verschenken lässt …
„Das Rätsel ist gelöst; ich habe die Wahrheit gefunden!“, darunter macht es Clas Broder Hansen nicht. Der Seefahrtshistoriker, Autor und Verleger, der auf Amrum in dem wohl schönsten Haus auf Großdün direkt unter dem Leuchtturm lebt, ist den Mythen rund um jenes Wrack nachgegangen, dessen Rumpf zwischen Föhr und Amrum im Watt liegt und ein Highlight auf jeder Touristentour ist. Hier sehen Sie die „City of Bedford“, so hört man es seit Jahren zigmal am Tag. Fest steht jetzt: Es ist nicht die „City of Bedford“, wie Hansen in seinem neuen Buch aufdeckt. Welches Schiff ist es dann? „Es kann eigentlich jedes Schiff sein, das vor 1900 dort gestrandet ist“, sagt der Autor und schmunzelt. Seine Suche begann er im Februar 1825. Im Monat des verheerendsten Unwetters aller Zeiten im Norden. „Von hier aus habe ich die Suche immer weiter ausgedehnt. Irgendwann sucht man im ganzen Ozean.“
In diesem Text kann jetzt nicht stehen, welche Brigg es ist, die dort liegt. „Wenn man über einen Krimi schreibt, dann sollte man nicht schon in der Ankündigung verraten, wer da mordet“, sagt Hansen; lacht. „Nicht die Pointe verraten, bitte.“ Und verbietet sich auch gleich noch die Nennung des Heimathafens. Nur so viel: Das Schiff kam von Altona. Dort brach es auf – drei Tage bevor es zwischen Föhr und Amrum strandete.
Ein Blick ins Quellenverzeichnis lässt denken, das könnte ein guter Krimi sein: neben einer Familienchronik in Ahaus und dem Maritime Museum im britischen Appledore hat Hansen das Logbuch des Schiffes gelesen, die Inventarliste mit den 182 Posten gefunden, die abgeborgen wurden und fast zwei Dutzend Proben von Steven, Spanten und Außenplanken beim Thünen-Institut für Holzforschung untersuchen lassen. Wussten Sie, dass man beim Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie erfragen kann, wie der Wasserstand am Pegel Amrum Odde war – im August und Oktober 1845? Man kann! „Die rechnen die Gezeiten zurück“, erklärt Hansen. Die weltälteste Marinezeitung, Lloyd’s List, hat Hansen auch durchforstet; genau so wie das Bristol Newspaper Archive. In seinem Arbeitszimmer in Hamburg-Ottensen zeugt ein kniehoher Stapel Fachbücher von einer Kaufnotwendigkeit, um der Geschichte des Wracks endlich auf den Grund gehen zu können. Obenauf auf dem zweiten Turm, der Hansens nach Kapiteln geordnete Aufzeichnungen und Rechercheergebnisse enthält, liegt ein Musterblatt in deutscher Kurrent. Ohne Kenntnis dieser alten Schreibschrift, die bis Mitte des letzten Jahrhunderts im Verwaltungsverkehr üblich war, lässt sich aus vielen historischen Auszeichnungen nichts Rauslesen. Für Unkundige bedeutet das manchmal: Buchstabe für Buchstabe!
Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich nur mit dem Holz des Schiffes: Eiche, ostamerikanische Lärche, Kiefer, Birke, keine Birke. „Ich war überzeugt, die Analyse beim Institut würde Lärchenholz ergeben“, schreibt Hansen in seinem Buch. „Dann wäre das Rätsel gelöst.“ Es war aber Ahorn. Und auch Ahorn war nachher das falsche Holz.
Hansen hat sich durchgefragt quer über die Inseln – und hinter der Nordsee weiter. Der Dunsumer Ocke Hinrichsen hat ihm zweimal beim Ausmessen geholfen. Neben den Experten in der Ferring-Stiftung und den alten Wissenden von Amrum, wie den Quedens-Brüdern und der verstorbenen Wilma Blechenberg hat Hansen auf Föhr unter anderem mit Heimatforscher Uwe Lorenzen und Lorenz „Maxi“ Braren gesprochen. Mit Oluf Jensen aus Dunsum, einem Wattführer, der mit Hansen erst gar nicht sprechen wollte: Er spräche nur mit Friesen. Hansen lacht. Später haben sie dann doch noch schön telefoniert. Sein Dank an die Gesprächspartner füllt zwei Seiten des Buches.
Die „City of Bedford“, das Wrack, was dort im Watt nicht liegt, ist gebettet auf Mythen. Und aus diesen Mythen, die durchaus ihren wahren Ursprung haben, schälte sich für Hansen nach und nach die Geschichte desjenigen Schiffes heraus, das da tatsächlich liegt – mit seinem Bug südwestlich zur Amrumer Nordspitze, rund 20 Meter lang und 6 Meter breit, mit einer Raumtiefe von knapp vier Metern.
Vier tote Matrosen, ein triefnasser Jüngling, hernach ein schwangeres Mädchen. Ein Mann am Mast gebunden, die alten Balken in einer Oldsumer Scheune, das Unwetter … was man sich halt so erzählt. „Es ist ja so, eigentlich haben alle Recht. Alles hat sich für sich genommen so zugetragen“, erzählt Hansen. Nur nicht alles auf einmal. Es war tatsächlich ein Jahrhundert mit gigantischen Sturmfluten: 24. November 1825, 21. Oktober 1845. Die allerallerschlimmste je hier im Norden gemessene war die Flut am 4. Februar 1825. „Schwerste Landverluste auf den Halligen“ sagt Hansen. „Auf Hallig Südfall alle tot; eine Massenflucht rüber nach Föhr – zig Schiffsunglücke.“
Was Hansen fasziniert an diesem Wrack ist zweierlei: „Wir erfahren viel über die Menschen und ihr Leben, wenn wir zu den Schiffen recherchieren. Über Wirtschaftsgeschichte und Handelswege. Und zweitens, wo können wir normalerweise alte Schiffe bestaunen? Im Museum – oder gar nicht, wenn sie unter Wasser liegen. Unser Schiff hier liegt vor unseren Augen im Watt. Seit fast 200 Jahren! Für mich öffnet sich da ein Fenster in eine neue Gegend der Welt.“
Seiner Begeisterung hat er im letzten Kapitel Raum gegeben – gerichtet an alle künftigen Wattgänger: „Selten kann man ein so altes Schiff so hautnah erleben. (…) Stellt euch vor, mit ihm über den Atlantik zu segeln: Stellt euch vor, wie der Wind die 14 Segel bläst; wie ihr zusammen mit zwei Dutzend Matrosen sechs Wochen lang auf diesem kleinen Schiff lebt; wie Brecher über das Deck schlagen. Und fragt euch, ob ihr euch bei starker Schlagseite an Deck halten könntet. Denkt an die Männer, die hier Todesangst hatten und dann doch gerettet wurden. Lasst uns das alte Schiff mit Respekt betrachten und in Ehren halten, dieses Schiff, das den Namen (…) trägt.“
Zu einer Zeit als sich die Wattführer noch zu Beginn einer Saison zusammentaten und die Geschichten abglichen, die sie den Besuchern erzählen würden, formte sich auch die Geschichte der „City of Bedford“. Sie wird neu erzählt werden müssen …
Clas Broder Hansen: Das geheimnisvolle Wrack im Watt zwischen Föhr und Amrum. Urbes Verlag, Hamburg, 2024. ISBN 978-3-924896-45-4
14,95 Euro.