“Ein ganz großes Werk”, meldete die Amrum-Chronik des Jahres 2012 über die Renovierung und Neuaufstellung der alten Grabsteine auf dem St. Clemens-Friedhof in Nebel und nennt die Namen der Initiatoren und Protagonisten, die mit diesem Werk verbunden sind. Pastorin Heinecke und Ehemann Frank Hansen, das Ehepaar Langenhan und vom Kirchenvorstand Kurt Tönissen. Tatsächlich gehört nach Vollendung dieser Aufgabe der Amrumer Friedhof zu den wertvollsten in Norddeutschland, dabei auch jene auf der Nachbarinsel Föhr übertreffend, die zwar sehr viel mehr Kommandeure und Kapitäne aufzuweisen haben als Amrum, aber doch nicht über die Fülle der kunstvollen und historisch wertvollen Grabsteine verfügen. Gleichzeitig kamen aber nicht nur die alten Grabsteine zu Ehren, sondern es wurden auch die einfacheren Rotsteinfliesen in der Gesamtaufstellung berücksichtigt, sowie noch etliche Grabsteine aus dem vorigen Jahrhundert, die zum Teil im Friedhofswall verbuddelt lagen, renoviert und neu aufgestellt. Dabei kamen Grabsteine bedeutender Amrumer Persönlichkeiten, z. B. des langjährigen Lehrers an der Norddorfer Schule, Johann Martensen (1813 – 1894, Lehrer von 1839 bis 1881), zu Tage.

Eine stille Freude verbindet sich aber vor allem mit dem Wiederfund des Grabsteines von Keike Nielsen (1816 – 1891), obwohl dieser Stein aufgrund von Verwitterung fast keine Deutung mehr zulässt. Die Restaurierung erfolgte durch die Diplom-Restauratorin Malaika Krohn, die aber nur wenige Daten und Namen identifizieren konnte, weil die Inschrift fast vollständig verwittert war. Nur die Symbole Herz, Kreuz und Anker waren im Medaillon im Giebelbogen noch erkennbar, während der volle Name von Keike Nielsen nicht mehr zu entziffern war. Hier geben die Kenntnis der Inselgeschichte und die Kirchenbücher nähere Auskunft. Mit dem Stein verbinden sich nämlich dramatische Geschichten.
Keike wurde im Jahre 1816, am 15. Juli, in Süddorf geboren. Ihre Eltern waren Erk Fink und Keike Petersen. Im Jahre 1836 heiratete Keike den Fischer Cornelius Petersen. Drei Kinder wurden dem Ehepaar geboren. Aber Anfang Dezember 1841 verunglückte der Austernfischer nahe Nordmarsch-Langeneß, und sein Leichnam wurde erst am 9. April 1842 am Wittdüner Strand gefunden. Die Seemannswitwe Keike Petersen wird – wie fast alle Seemannswitwen – mit ihren Kindern in großer Armut gelebt haben. Denn es gab keine Versicherungen oder Hilfsorganisationen in jener Zeit!
Einwanderung aus dem südlichen Jütland
Die Krise der weltweiten Seefahrt im 19. Jahrhundert machte sich auch auf den nordfriesischen Inseln bemerkbar. Die frühere fast ausschließliche Hinwendung zur Seefahrt geriet dadurch ins Wanken, dass nun auch andere Berufe “ihren Mann erforderten” und Handwerk, Handel und Landwirtschaft sich verbreiteten. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass über ein Dutzend Arbeitsleute aus dem südlichen Dänemark (Sönderjylland) nach Amrum einwanderten und neue Namen und Familien begründeten (Bork, Jensen, Kristensen, Madsen, Bertelsen, Eschels, Westergaard usw.). Die Einwanderer waren in Berufen tätig, die von den Amrumern nicht oder nur unzureichend ausgeübt wurden, benötigten natürlich ein Dach über dem Kopf und “verhalfen mancher Jungfer in den Ehestand”, wie der Chronist C. P. Hansen auch von Sylt berichtete. Das hieß, mit der Frau wurde auch “ein Haus geheiratet”.

Einer dieser jütischen Einwanderer war Niels Nielsen aus der Gegend von Ribe (woher die meisten der jütischen Einwanderer nach Amrum stammten), geboren am 9. März des Jahres 1827. Die Einwohnerlisten nennen ihn “Bootsknecht”, später aber auch “Bootsschiffer” mit eigenem Boot, vermutlich für die Austernfischerei, sowie eigenständiger Landwirt. Die Seemannswitwe Keike Petersen geb. Fink mit zwei heranwachsenden Töchtern (der Sohn Peter Nanning war 1845, nicht einmal sechs Jahre alt, gestorben) hatte Glück. Sie fand in Niels Nielsen einen neuen Ehemann, und dies war damals für die Versorgung einer Frau, vor allem einer Witwe, von höchster Wichtigkeit. Die Hochzeit war am 8. Mai 1849, und das Ehepaar wohnte im Ostende von Norddorf, nach der alten Steuerliste im Haus Nr. 10, zuletzt der Familie Kölzow gehörend. In den folgenden Jahren wurden dem Ehepaar sechs Kinder geboren, von denen die erstgeborene Tochter nach Föhr zog, der zweite als 19jähriger Seemann bei Kap Hoorn ums Leben kam, die jüngeren vier Söhne aber nach Amerika auswanderten und von dort aus die Mutter im Alter unterstützen konnten. Und letzteres war auch notwendig, denn zweimal war Keike mit einer großen Kinderschar Witwe geworden, zuletzt durch den größten Unglücksfall, den Amrum in seiner Geschichte erlebte.
“Neun Männer starben für einen Hund”
so lautete die Schlagzeile in den Zeitungen aus jenen Tagen. Geschehen war folgendes: Am 9. Dezember des Jahres 1863 strandete auf dem Hörnum-Sand querab des Norddorfer Strandes die Brigg Horus aus Rostock, die offenbar keine Mannschaft mehr an Bord hatte. Im 19. Jahrhundert waren Bergelöhne für Schiffsgüter und gestrandete Schiffe die größten Einnahmequellen, die alle anderen, auch aus der Seefahrt, weit übertrafen. So wurden von Eignern, Ladungsinteressenten und Versicherungen tausende und zehntausende Mark Courant bezahlt, in einer Zeit, als der Jahreslohn eines Arbeiters nur etwa 600 Mark Courant betrug. Jeder Strandungsfall sorgte deshalb für entsprechende Aufregung und Erwartung, insbesondere im unmittelbaren Angesicht vor dem Norddorfer Strand. Der Inselchronist Richard Matzen erinnerte sich, dass sogar schon zur Winterruhe im Garten liegende Ruderboote in Eile aktiviert und zum Strand befördert wurden, aus der Hafenbucht Steenodde Schiffe heransegelten und sich unter den Besatzungen der im Kniephafen liegenden Austernflotte eine ungeheure Aufregung verbreitete.
Am Tage zuvor hatte noch ein heftiger Sturm getobt, der sich aber mittlerweile beruhigt hatte. Doch wurde das Meer vor der Amrumer Küste noch von überaus hohen Wellen bewegt. Aber dann ließen sich Erregung und Erwartung am Norddorfer Strand nicht mehr halten. Von der Austernflotte löste sich ein erstes Ruderboot, dem sofort weitere folgten. Aber die Boote kamen nicht weit. Zwei Boote kenterten schon in der unmittelbaren Strandbrandung, und die Besatzungen verschwanden in der Tiefe, einmal vier, zum anderen fünf Männer. Nun retteten sich die anderen Boote zurück in den Kniephafen. Hunderte der inzwischen am Strand versammelten Insulaner hatten den Start des Bergungswettlaufes und das Unglück miterlebt, und es verbreitete sich eine unfassbare Panik, verbunden mit der Ungewissheit, wer bei diesem Manöver sein Leben verloren hatte.
Erst am Abend wussten alle Bescheid. Die Bilanz dieser nur Minuten dauernden Tragödie: Neun Männer ertrunken, drei aus Nebel, sechs aus Norddorf. Von den neun Männern waren sechs Familienväter, darunter zwei mit schon erwachsenen, vier mit noch unmündigen Kindern. Am schwersten betroffen war Keike Nielsen, Mutter von acht Kindern, die nun zum zweiten Mal einen Ehemann als Seefahrer verloren hatte.
“Das Meer gab keine Toten frei!”
In den nächsten Tagen waren die Kinder der Verunglückten immer wieder am Strand, um ihre Toten zu suchen. Aber trotz der unmittelbaren Strandnähe – es trieb keine Leiche an. Erst sehr viel später, im Mai 1864, trieb auf Hörnum die Leiche von Peter John an. Aber der Amrumer Möweneiersammler, der die Leiche fand, wollte sich keine Unannehmlichkeiten bereiten und meldete den Fund nicht weiter, so dass die Leiche zunächst namenlos auf dem Sylter Heimatlosenfriedhof begraben wurde. Erst später scheint sich der Amrumer doch noch gemeldet zu haben, so dass möglicherweise eine Überführung nach Amrum stattfand. Denn auf dem Sylter Heimatlosenfriedhof ist kein Kreuz von Peter John, 39 Jahre alt und Vater von sechs Kindern, zu finden. Allerdings meldet auch das “Totenbuch” der St. Clemens-Gemeinde Amrum für 1864 keine entsprechende Bestattung.
Spendensturmflut (Teil 2)
Erst zwei Tage nach der Strandung der Horus erreichte man von Amrum aus das Wrack und wurde hier von einem wütenden Hund empfangen. Dieser Hund war der Grund für die bald in den Zeitungen verbreitete Meldung, dass man von Amrum aus noch Leben an Bord des gestrandeten Schiffes vermutet hatte, und aus dem verunglückten Wettlauf zwecks Bergung von Schiff und Schiffsgütern wurde nun in der Presse ein “todesmutiger Einsatz für die Rettung von Schiffbrüchigen”. “Neun Männer starben für einen Hund”, lautete die Schlagzeile, und eine Welle der Betroffenheit und der Anteilnahme verbreitete sich im Land. Von Rostock reiste der Bruder des Horus-Kapitäns Zeplin an, und man erfuhr, dass die Besatzung der Brigg sich bereits an der norwegischen Küste an Land gerettet hatte, als das Schiff in einem Sturm leckgeschlagen war und zu sinken drohte. Es war aber nicht untergegangen, sondern von seiner Holzladung bis nach Amrum getragen worden.

In Hamburg engagierte sich der Reeder Sloman für die Hinterbliebenen der Verunglückten und rief zu einer Spende und zur Gründung eines Rettungswerkes an deutschen Küsten nach englischem und skandinavischem Vorbild auf. Es kam dann so viel Geld zusammen, “wie man es auf Amrum noch nie auf einem Haufen gesehen hatte” (Richard Matzen). Dabei spielte die Tatsache, dass die Amrumer ja dänische Staatsbürger waren, keine Rolle. Erst zwei Jahre später eroberten Preußen und Österreich Schleswig-Holstein mit seinen Herzogtümern und verleibten sich das Gebiet in das spätere Deutsche Reich ein.
14.000 Taler lagen auf dem Tisch, das waren nach heutigem Wert rund 9,8 Millionen Euro! – eine unvorstellbare Summe. (Eine Versicherung für Seemannswitwen erfolgte erst ab Dezember 1887 durch die Seeberufsgenossenschaft). Angesichts dieser Geldmenge wurde befürchtet, dass die Hinterbliebenen übermütig und mit dem Geld nicht vernünftig umgehen würden. Es wurde deshalb ein Komitee einberufen, vermutlich unter Leitung des Inselpastors Mechlenburg, und dieses beschloss, dass für die Witwen pro Vierteljahr 6 Taler und für die Kinder pro Woche 6 Schillinggroschen auszugeben waren. Das war angesichts der Spendenmenge und der tatsächlichen Bedürftigkeit der Hinterbliebenen eine lächerlich geringe Unterstützung, aber es war dennoch eine dauerhafte Versorgung, worum die Empfänger von anderen beneidet wurden. Denn hunderte Seemannswitwen und -waisen auf den Inseln vorher und nachher erhielten keinerlei Hilfe für ihr ärmliches Leben. Und selbst nach Einrichtung der Versicherung im Jahre 1887 dauerte es noch lange, ehe diese auf der abgelegenen Insel Amrum überhaupt bekannt und begriffen wurde. Und dann wurde oft noch aus stolzer Scham auf eine Inanspruchnahme verzichtet. Für das Horus-Komitee aber blieb ein Behalt von unverändert etwa 14.000 Talern! Das Geld wurde in Schleswig-Holstein sowie auch an die immer noch bestehende Birk Westerlandföhr-Amrum verliehen. Ebenso sorgte eine Börsenspekulation für entsprechende Zinseinkünfte und dafür, dass die Spendensumme unvermindert groß blieb. Andererseits entwickelten sich die Bedingungen mit zunehmender Dauer auch günstiger, weil die Witwen starben und deren Kinder aus dem anspruchsberechtigten Alter von bis zu 15 Jahren herausgewachsen waren.
Keike Nielsen – im Alter gut versorgt
Keike und Niels Nielsen hatten wie erwähnt sechs Kinder. Die erstgeborene Tochter zog nach Föhr, die anderen waren Söhne, von denen der älteste, Peter Nanning, kaum 20 Jahre alt bei Kap Hoorn ums Leben kam. Die anderen vier wanderten nach Amerika aus und fanden in Sandusky, einer Hafenstadt am Eriesee im Bundesstaat Ohio, eine neue Heimat. Doch kehrten einige, offenbar mit Vermögen, wieder nach Amrum zurück. Carl, geboren 1858, siedelte sich Anfang der 1890er Jahre in Wittdün an und erbaute hier die heute noch vorhandene Villa an der Hauptstraße (heute Familie Klüßendorf). Aber das junge Seebad auf der Amrumer Südspitze entsprach wohl doch nicht seinen Vorstellungen von Heimat. Er kehrte nach Amerika zurück und soll dort 1896 gestorben sein.

Aber der 1853 geborene Nanning Conrad siedelte sich als Landwirt in Nebel an und heiratete Ida, geb. Jacobs. Die 1878 geborene Tochter Juliane sollte später in Nebel noch eine wichtige Rolle spielen. Sie heiratete 1896 den von Pellworm stammenden Matthias Friedrich Dethlefsen und hatte mit diesem nicht weniger als 12 Kinder, wurde also die Stammmutter der Familie Dethlefsen auf Amrum. Aber sie machte sich im Gedächtnis der Insulaner vor allem als Wirtin des im Jahre 1902 gegründeten Bahnhof-Hotels an der Inselbahnstation Nebel einen Namen. Über ein halbes Jahrhundert hing in der Gaststube das übergroße Gemälde von Juliane in Friesentracht und zeigte eine energische Frau, die sicherlich im Bahnhof “die Hosen anhatte”, bestimmt aber auch die Seele des Betriebes war, nach Aussagen ihrer Nachkommen aber manchmal auch überstreng regierte. Und man darf mit Sicherheit sagen, dass nicht Matthias von Pellworm das Geld für den Bau des Bahnhof-Hotels mitgebracht hatte, sondern die dafür benötigten Dollar aus Sandusky in Amerika geliefert wurden. Bis zuletzt hing das Gemälde in der Gaststube, und bis zuletzt blieb das Hotel im Familienbesitz – bis das Haus im Jahre 2001 nach dem Konkurs der letzten Generation abgebrochen wurde. Das Gemälde befindet sich heute im Hause der Urenkelin Anke Kaiser in Nebel.
Dank ihrer Söhne in Amerika konnte Keike Nielsen einen sorgenfreien Lebensabend verbringen, wurde allerdings von verschiedenen Krankheiten geplagt. Nach ihrem Tod sorgten die Söhne auch für einen schönen Grabstein, dessen Inschrift nun leider durch die Zeit abgewetzt worden ist.
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Zum Sohn Carl, geb. 2. Aug. 1858 in Nebel, folgende Ergänzung: Verstorben nicht 1896 in den USA, sondern am 10. Mai 1902 in Sandusky, Erie, Ohio, USA. Quelle: https://de.findagrave.com/memorial/69822974/carl_georg-nielsen . Herzliche Grüße Knut Siegerler