Der Friedhof rund um die St-Clemens-Kirche in Nebel hat zwei Seiten – den im Jahre 2013 eingerichteten Teil mit den alten, unter großem Aufwand renovierten Grabsteinen aus dem 18. und 19. Jahrhundert und den “Gebrauchsfriedhof” der Gegenwart mit der Vielzahl der individuell gestalteten Grabstellen, wobei es – offenbar mangels einer gültigen Satzung – aber auch Gräber gibt, deren Steine nicht von Jedermann akzeptiert werden, wie ein großer, weisser Stein, der von Friedhofsbesuchern als “Grote Mors”, als großer Damenhintern, bezeichnet wird. Andernorts überschreiten Gräberbeigaben gelegentlich die Grenzen des guten Geschmacks.
Aber innerhalb des täglichen “Gebrauchsfriedhofes” erregt ein Grabstein die besondere Aufmerksamkeit, weil er hinsichtlich seiner Form und Beschriftung aus den Rahmen der sonst üblichen Grabsteine fällt und an die Gestaltung der historischen Stelen der oben erwähnten Friedhofsabteilung erinnert. Es ist der Grabstein des Kapitänes Wilhelm Tönissen und seiner Familie. Wie bei den alten Seefahrer-Grabsteinen auf dem historischen Teil des St. Clemens-Friedhofes, fällt auch hier im Rundgiebel die plastisch herausgearbeitete, allerdings hier namentlich nicht genannte Viermastbark “Kurt” auf, umrahmt von dem Spruchband: CHRIST KYRIE. KOMM ZU UNS AUF DIE SEE. Auf dem Grabstein lesen wir dann die plastisch herausgehauene Inschrift:
HIER RUHET KAPITÄN WILHELM TÖNISSEN GEB. 8. APRIL 1881 – GEST. 19. OKT. 1929.
Mit 15 Jahren zur See gekommen, führte er seit seinem 27. Lebensjahr die Viermastbark KURT nach der Westküste Südamerikas, nach Mexiko und Australien. 1916, im großen Kriege, nahmen ihm die Nordamerikaner das Schiff und behielten ihn in Haft. 1919 kehrte er heim nach Nebel zu seiner Gattin GEORGINE geb. SIMONS, mit der seit 1904 in glücklicher Ehe lebte und 5 Kinder hatte, 2 Söhne und 3 Töchter. Er wirkte bis zu seinem plötzlichen Tod fröhlich mit Liebe für Familie und Insel.
GEORGINE TÖNISSEN geb. SIMONS, geb . 20.5.1883 , gest. 10.1.1972
KURT TÖNISSEN , geb. 18.6.1920, auf See geblieben mit der Bismarck am 27.5.1941.
Der jüngste Kapitän in Hamburg
Wilhelm Tönissen wurde – wie übrigens vorher viele Knaben auf Amrum – im Februar 1896 in der St.Clemens-Kirche vorzeitig konfirmiert, damit er rechtzeitig mit dem Amrumer Kapitän Carl Jessen auf der Laeisz-Bark “Pirat” seine Seemannslaufbahn beginnen konnte. Die Reise ging zu einem Salpeterhafen an der chilenischen Pazifikküste, wobei auf Hin- und Rückreise das berüchtigte Kap Hoorn umrundet werden musste. Die zweite Reise erfolgte auf dem Laeisz-Segler »Placilla« unter dem Kapitän Schmidt, Hamburg. Besonders dramatisch aber verlief für den jungen Amrumer Matrosen die dritte Reise auf der Bark “Planet” der Blankeneser Reederei Breckwoldt. Auf der Rückreise von Mazatlan an der mexikanischen Pazifikküste brach eine unheimliche Krankheit aus. Der Kapitän sprang irre geworden über Bord und ertrank, der Steuermann schlug mit seinem Stiefel eine Petroleumlampe entzwei, so dass ein Brand ausbrach, der nur mit Mühe wieder gelöscht werden konnte. Wenig später starben der 1. und der 2. Steuermann, und das Schiff hatte seine Führung verloren. Andere verloren ihre Zähne. Offenbar war die Mannschaft von der berüchtigten Krankheit “Beriberi” befallen. Nur die nötigsten Segel blieben stehen – bis endlich ein englischer Dampfer aufkam, die Toten der See übergab und die Lebenden in das Krankenhaus von Plymouth brachte.
Nach Absolvierung der vorgeschriebene Fahrtzeit und mit dem Steuermannsexamen in der Tasche heuerte Wilhelm Tönissen auf der Hamburger Viermastbark “Kurt” an und wurde 1908 zum Kapitän dieses Schiffes der Reederei Siemers & Co. ernannt, als jüngster Kapitän der damals noch großen Hamburger Flotte von Tiefwasserseglern auf weltweiter Fahrt. Mit der “Kurt” stellte der junge Amrumer Kapitän schnell seine Befähigung als Schiffsführer unter Beweis und machte Rekordfahrten zur Westküste von Südamerika und auf Zwischenfahrten nach Australien, wobei auch Dampfer überholt wurden.
Doch dann brach der 1. Weltkrieg aus (August 1914) und die “Kurt”, auf der Fahrt von Santa Rosalia nach Portland, um Weizen zu laden, lief in den Columbia-River der zunächst noch neutralen USA ein. Hier blieben Schiff und Besatzung drei Jahre lang gezwungenermaßen liegen, aber als die USA 1917 in den Krieg gegen das Deutsche Reich eintraten, erfolgte die Beschlagnahme und Internierung. Allerdings hatte ein Teil der Besatzung, darunter die Amrumer Meinhard Breckwoldt, Gustav Kröhnert, Gerhard Quedens und der Steuermann Johannes Schmidt das Schiff schon verlassen und waren regulär in die USA eingewandert. Erst 1919 konnte der Kapitän Wilhelm Tönissen mit dem Dampfer “Dresden” nach Hamburg zurückkehren, während sein Schiff, die “Kurt” an die USA ausgeliefert werden musste . Insgesamt hatte der 1. Weltkrieg das Ende der Segelschiffe zugunsten der Dampfschifffahrt herbeigeführt. Auf Amrum war Wilhelm Tönissen seit 1904 mit Georgine geb. Simons verheiratet. Aber während die deutsche Handelsseefahrt zunächst am Boden lag, konnte Wilhelm nicht untätig bleiben. Am Westrand von Nebel, auf einer Anhöhe, ließ er ein stolzes Haus, “Klaar Kiming”, erbauen und wirkte hier als Vertreter der HAPAG und als Direktor der Amrumer Inselbahn. Auf einer Geschäftsreise nach Hamburg starb er dann sozusagen in der Öffentlichkeit an Herzschlag, erst 48 Jahre alt, und wurde mit Hilfe eines Föhrer Freundes, Dr. Julius Tedsen, nach Amrum überführt. So früh gestorben, musste er aber nicht mehr erleben, dass sein 1920 geborener Sohn Kurt ein Opfer des 2. Weltkrieges wurde, als dieser am 27. Mai 1941 mit dem Schlachtschiff “Bismarck” im Atlantik durch Flugzeuge und Kriegsschiffe der britischen Royal Navy versenkt wurde. Der Name Kurt nach der Hamburger Viermastbar blieb aber weiterhin in der Familie Tönissen verankert, im Enkel Kurt Tönissen, der ebenfalls Seemann bis hinauf zum Kapitänsrang wurde – heute in Nebel wohnend.
Georg Quedens