Amrum war damals wie heute ein mehrenteils dürres Heide- und Dünenland, klein an Fläche, aber mit großen, weit hinausreichenden und für die Seefahrt gefahrvollen Sandbänken umgeben. “Die Insel hatte eine Kirche und von Alters her sehr rasche, entschlossene, aber als Stranddiebe berüchtigte Einwohner”, schrieb der Sylter Lehrer und Chronist Christian Peter Hansen noch im Jahre 1877 in der Neuauflage seiner “Chronik der friesischen Uthlande”. C. P. Hansen blickte gerne, wie auch andere Sylter, mehr oder weniger geringschätzig auf seine Nachbarn und immerhin friesischen Landsleute herab. Ursache dieser Aversion war aber sicherlich auch die Tatsache, daß sich Amrumer immer wieder auf der Sylter Südspitze Hörnum als “Strandräuber” betätigten und den Rantumern, denen Hörnum gehörte, manchen Bergelohn bei den dort häufigen Strandungsfällen streitig machten, z. B. bei der Strandung der Bremer Brigg “Colonia” im Jahre 1839, als zwischen Männern von Sylt und Amrum ein regelrechter “Krieg” um die Bergung der Tabakladung entbrannte.
Strandungsfälle, Bergelohn und Strandräuberei waren tatsächlich ein wesentlicher Beitrag zum damaligen Leben im alten Amrum, als die Insel selbst ihren Bewohnern wenig feste Einkommen bot und die Männer zwecks Ernährung ihrer Familien zur See fahren mussten – ständig bedroht von tropischen Krankheiten und Unglücksfällen. So waren die Inseln zugleich auch immer die Inseln der Witwen und Waisen. Erst im Jahre 1888 wurde die Seeberufsgenossenschaft für die Versorgung von Familien der verunglückten Seefahrer begründet.
Immerhin bot im “alten Amrum” die Insel einige “Exportprodukte”, die ureigene Erzeugnisse waren: Reepen aus Dünenhalm (Strandhafer) und Besen aus Krähenbeere und Heidekraut, ein kleiner Nebenerwerb besonders für die Ärmsten der Armen. Beide Produkte wurden vor allem nach Föhr “exportiert”, wo man die robusten Heidebesen in den Viehställen und die Halmreepen zum Binden der Reetgarben bei Reetdächern benutzte. Ebenso hatten die nach Husum fahrenden Amrumer Frachtschiffer immer auch Halmreepen und Heidebesen für den dortigen Verkauf oder Naturalienhandel an Bord.
Dabei war die Herstellung von Halmreepen mit einigen Problemen verbunden. Um den Sandsturm und die Dünenwanderung zu bändigen, war das “Halmschneiden” zeitweilig mit strengen Strafen belegt. Aber die Insulaner gingen ungeachtet der Verbote und Strafen notgedrungen heimlich in die Dünen, um Halm zu schneiden und damit die Produktion von Reepen zu betreiben und die schlimmste Not in den Häusern der Witwen und Waisen und anderen armen Inselbewohnern zu mildern.
Harte Halme, weichgeklopft
Halmreepen und Heidekrautbesen wurden in einigen Häusern auf Amrum noch bis Mitte des vorigen Jahrhunderts produziert, vor allem in den Notjahren nach dem 2. Weltkrieg. Der letzten Reependreher in Norddorf war “Macke”, Martin Peters.
Aber auch “Fipp”, Philipp Peters, konnte dem Sprachwissenschaftler Nils Arhammer in den 1960er Jahren noch genau die Herstellung von Reepen und die heute vergessenen amrumfriesischen Bezeichnungen dieses Handwerkes benennen. In Nebel soll Christian Schmidt noch um 1960 Heidebesen produziert haben.
Das Reependrehen, fries. “Riaperträn”, war eine Winterarbeit. Aber schon im Sommer musste der frischgrüne Strandhafer dazu mit einer Sichel zentimetertief aus dem Boden geschnitten und zum Trocknen auf einer freien Dünenfläche ausgebreitet werden. Nach etwa einer Woche wurde er dann, inzwischen gelblichgrün geworden, nach Hause gebracht und auf dem Dachboden zwecks weiterer Trocknung gelagert. Im Winter wurde dann der inzwischen gelbe Halm eingeweicht und mit einem Holzhammer, fries. “Nöd”, breitgeklopft. Die Verarbeitung zu Reepen erfolgte nun durch das Aufnehmen einer gewissen Mengen von Halmen und das Zusammendrehen (“Trän”) zwischen den Handflächen. Überall, wo neue Halme zwecks Verlängerung des Reepens neu angesetzt wurden, steckten aber die Enden und Spitzen der Halme heraus, die gestutzt werden mussten, “plakin” genannt – eine Arbeit, die nicht selten von größeren Kindern durchgeführt wurde.
Die Halmreepen hatten eine Stärke von etwa 1cm, konnten aber auch auf das Doppelte verstärkte werden und dienten dann als Wäscheleinen, wobei man die Wäsche durch das Aufdrehen der Reepen einklemmte und keine Klammern benötigte. Die einfachen Reepen wurden vor allem zum Binden der Reetdächer verwendet, und es ist erstaunlich, dass die Reepen noch unverbraucht an den Dachsparren saßen, wenn das Reet schon verrottet war!
Zeitweilig sind diese Produkte aus den Amrumer Dünen eine regelrechte Ersatzwährung gewesen. Sie wurden nicht gegen Geld verkauft, sondern auf Föhr und dem Festlande gegen lebensnotwendige Waren eingetauscht.
Aber es gab Zeiten, da war das Reependrehen nicht ungefährlich. Die Dünen wurden ihrer Vegetation beraubt und begannen zu wandern. Besonders südwestlich von Norddorf drängten sich Dünen an das Dorf und an das fruchtbare Marschenland heran, so dass im Jahre 1696 durch die Obrigkeit erstmals ein Verbot gegen das “Halmschneiden” erlassen wurde. Die Not in den Amrumer Witwenhäusern und bei Tagelöhnern war aber größer als die Verordnung gegen “Halmdiebe”. Letztere musste deshalb mehrfach erneuert und die Strafandrohungen verschärft werden. So hieß es z. B. in einem “Plakat” von 1780, das sowohl in der “Bauernstube” zu Nebel als auch in der St. Clemens-Kirche publiziert wurde, “…daß Diebe ohne alle Gnade bestraft werden, beim ersten Mal im Gefängnis mit einer Rute gezüchtigt und beim zweiten Mal am Pranger zur Staupe geschlagen und auf dem Rücken gebrandmarkt werden…”. Den insularen “Schiffsleuten” wurde aufs Strengste untersagt, “Halmreepen auszuführen”.
Alles umsonst. Schließlich wurden durch die “Achtmänner” Stellen ausgewiesen, “wo die Armen Halme pflücken dürfen”.
Heidebesen
Weniger problematisch war das Binden von Besen aus den Ästen der Krähenbeere (fries. “Beiruter” = Empetrum nigrum) und der Besenheide (Calluna vulgaris), beides Holzsträucher, die in unerschöpflichen Mengen auf Amrum, in der ganzen Inselmitte zwischen Norddorf und Wittdün sowie in den Dünentälern wuchsen. Heidebesen mit ihrem robusten Holzstrauch waren vor allem auf Föhr und dem Festland in der Landwirtschaft beliebt. Als Stallbesen wurden sie auch gegen den sich hier und da anhäufenden Kuhdung benutzt. War der eigentliche Fegestrauch nach langem Gebrauch abgewetzt, wurde ein unterer Draht geöffnet, und es bildete sich ein neuer Strauch.
Wie viele Amrumer, war auch der Kojenmann der Vogelkoje Meerum, Cornelius Peters aus Norddorf, in der Zeit außerhalb der Entenfangzeit (August – November) immer wieder mit dem Binden von Heidebesen beschäftigt, so im Jahre 1874, als er 63 Besen herstellte. Und noch 1890/91, wenige Jahre vor seinem Tod (24.8.1892), verdiente er mit 36 Besen lt. Aussage seines Tagebuches 30 Mark Courant.
Noch bis weit in das vorige Jahrhundert hinein, besonders auch in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg, waren Amrumer Heidebesen in den Viehställen auf den Inseln und auf dem Festland in Gebrauch!
Georg Quedens