Eine unvergleichliche Stimmung am Amrumer Watt. Es ist windstill und nachtdunkel. Im Osten, über Utersum, steigt der Vollmond in den Himmel und widerspiegelt sich in den feuchtglänzenden Wattenflächen. Es ist Vorfrühling, und in der hellsichtig gewordenen Landschaft eilen die aus dem Süden zurückkehrenden Vögel als dunkle Gestalten bei Ebbezeit auf dem Schlick umher. Es sind Strandläuferarten und Wildenten und Wildgänse. Und dann lässt einer dieser Vögel seine Stimme hören, die laut und mit vielen “Üüs” über das Watt hinrollt. “Klüüit – klüüit prüü prüü prüü prüü” – die Stimme des Großen Brachvogels. Der Verfasser erinnert sich an eine Nebelnacht im März 1978, als Hunderte von Brachvögeln den Himmel über der Marsch und dem Dorf bevölkerten und scheinbar orientierungslos umherflogen, aber immer wieder rufend, vielleicht um Zusammenstöße zu vermeiden. Gleiche melodische, klangvolle Rufe und Triller sind dann wieder im April-Mai in den Amrumer Dünen zu hören, wenn die Brachvögel im Brutrevier balzen. Und erklingen als Warnrufe noch später, wenn die Brachvögel in den Dünen und Heidetälern, nicht selten inmitten der Heringsmöwenkolonien, ihre Jungen führen.
Die Stimme des Großen Brachvogels ist die schönste unter allen europäischen Vogelarten, unerreicht auch von der Nachtigall und der Amsel. Unübertroffen ist auch seine Gestalt. Das schlichte braungesprenkelte Gefieder ist wirkungsvoller als das bunte Federkleid von Bienenfresser oder Papagei. Der Brachvogel läuft auch nicht wie andere Vögel, sondern er “schreitet” oder “stolziert”. Er hat also nicht nur die schönste aller Vogelstimmen, sondern ist auch von eindrucksvoller Gestalt!
Der Große Brachvogel (lat. Numenius arquata) ist aber ein eher seltener Brutvogel an der Nordseeküste. Und hier brütet er nicht in Mooren und Feuchtwiesen, sondern erstaunlicherweise in den trockenen Dünen. So ist er auf fast allen ostfriesischen Inseln mit jeweils einigen Paaren als Brutvogel vertreten, auf den nordfriesischen Inseln aber beschränkt sich das Brutvorkommen auf Amrum. Nicht einmal auf Sylt, in den ausgedehnten Dünen und Heidetälern der langen Nehrung Hörnum und im Listland ist der Große Brachvogel als Brutvogel nachgewiesen, was möglicherweise mit dem dortigen Vorkommen von Füchsen zusammenhängt.
Der Große Brachvogel gehört zu einer großen, allein in Europa reichlich 30 Arten umfassenden Vogelfamilie, den Limicolen. Rotschenkel, Austernfischer, Säbelschnäbler, Bekassine, diverse Strandläuferarten, Uferschnepfen u. a. gehören dazu. Die “Kronschnepfe”, wie der Brachvogel auch genannt wird, hat sogar einen inselfriesischen Namen – R i n t ü t e r. Bekanntlich lässt sich durch diesen Umstand die “alte” von der “neuen” insularen Vogelwelt grob unterscheiden. Der Große Brachvogel hat in älterer Zeit nicht auf Amrum gebrütet, spielte aber als Jagdwild – vor allem mit der Blendlaterne im nächtlichen Watt – eine beachtliche Rolle. Hier bedienten sich die Jäger des öfteren einer nicht gerade waidmännischen Methode. War ein Vogel angeschossen, so brach er in lautes Klagen aus und lockte aus nah und fern zahlreiche weitere Brachvögel an, die dann ebenfalls zur Strecke gebracht werden konnten.
Brutvogel in den Dünen
Normalerweise ist der Große Brachvogel Brutvogel in Feuchtwiesen und Sumpfgeländen. Aber auf Amrum wie auf den ostfriesischen Inseln brütet er im Dünengelände. Auf Borkum und Norderney wurden erste Bruten aber erst um 1950 festgestellt, und aus dieser Zeit datieren auch die ersten Gelegefunde auf Amrum. 1954 wurde eine erste Brut registriert, und in den Folgejahren stieg die Anzahl der Brutpaare bis auf 8 Nachweise. Damals war die Leidenschaft des Möweneiersammelns in der Inselbevölkerung noch verbreitet, und die Gelege der Brachvögel waren wegen der Größe und Ähnlichkeit mit Möweneiern in großer Gefahr. Das eine oder andere Gelege ging dann auch verloren, denn mangels Kenntnissen fiel den Eiersammlern nicht auf, dass im Brachvogelnest – wie bei fast allen Limicolen (mit Ausnahme der Austernfischer und Seeregenpfeifer) – vier birnenförmige Eier lagen, das Vollgelege einer Möwe aber nur drei Eier enthält.
Im Brutgebiet lässt der Große Brachvogel immer wieder und anhaltend die wunderbaren Balztriller hören, die man schon aus der Vollmondnacht im Wattenmeer kennt. Und mit diesen Rufen begleitet ein Brachvogelpaar auch die Jungen, die als Nestflüchter auf langen Beinen und großen Füßen unterwegs sind, um am Boden und im Kraut eigenständig ihre Nahrung zu finden – ausschließlich Insekten. Es ist erstaunlich, dass die “wüsten” Dünen eine ausreichende Nahrungsmenge – auch noch zusätzlich für die Elternvögel – hergeben, und es ist ein Wunder, dass die kleinen Großen Brachvögel nicht Opfer der vielen Heringsmöwen werden, in deren Revieren sie herumspazieren. Die sie begleitenden und bewachenden Elternvögel lassen immer wieder ihre melodischen Flötentriller hören, die sich bei Gefahr in regelrechte Klagerufe verwandeln. Erstaunlich und bemerkenswert: Nach diesen Klagerufen erscheinen aus dem kilometerweit entfernten Watt einige Große Brachvögel, um sich an den Klagerufen zu beteiligen – wie schon oben zu lesen war, wenn bei der Jagd ein Vogel angeschossen wurde.
Nachdem im Jahre 1954 eine erste Brachvogelbrut auf Amrum registriert werden konnte, wurden in den Folgejahren bis zu 8 weitere Brutplätze in der Dünenheide, in reiner Strandhafervegetation sowie auf den ausgedehnten Heideflächen der Insel, bevor diese für die Aufforstung umgebrochen wurden, festgestellt. Doch dann reduzierte sich die Anzahl der Brutpaare auf 1-2, und das ist auch der gegenwärtige Brutbestand, in diesem Jahr nördlich und südlich des Quermarkenfeuers. Das nördliche Brutpaar ist hier schon seit Jahrzehnten angesiedelt, und es musste nicht von übereifrigen Beringern eingefangen und mit bunten Farbringen und vielleicht noch mit einem Sender auf dem Rücken versehen werden, um zu bestätigen, dass es sich immer noch um dasselbe Brutpaar handelt.
Ist der Große Brachvogel als Brutvogel ein seltenes Kleinod der sommerlichen Amrumer Vogelwelt, so bevölkern die “Kronschnepfen” in der Zugzeit im Herbst und Frühjahr zu Tausenden das Watt, stochern bei Ebbe mit ihren langen Schnäbeln Getier aus Sand und Schlick, sind aber auch auf Nahrungssuche in den Marschenwiesen und auf der Feldmark anzutreffen.
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