Mitten in Norddorf steht ein Friesenhaus, eher ein Friesenhäuschen, bescheiden zwischen einer belebten Gaststätte und der großen Dependance des Hotels Hüttmann. Es scheint uralt und wurde doch erst Anfang des 19. Jahrhunderts errichtet. Jedenfalls ist das Gebäude auf der ältesten Karte des Dorfes, angefertigt im Jahre 1799/1800 anläßlich der Aufhebung der Feldgemeinschaft und der “amtlichen” Zumessung des Grundbesitzes auf Amrum, noch nicht vorhanden.
Aber das Grundstück, auf dem das Haus steht, ist in der Karte vermerkt, und es gehört zum Haus Nr. 37 und wurde der Frau Matthei Jungbohn (1745 – 1829) zugeschlagen. Im Sterberegister wird sie als “Älteres Mädchen” bezeichnet, was heißt, das sie lebenslang unverheiratet war. Sie scheint aber nicht unvermögend gewesen zu sein, denn in der Akte der Landzuteilung steht: “Hat einiges Land”, und das bedeutete für Amrumer Verhältnisse doch einen gewissen Grundbesitz für die Landwirtschaft.
Aber erst nach mehrfachem Besitzwechsel wurde das Grundstück bebaut, wahrscheinlich in den ersten Jahrzehnten nach 1800, denn spätestens in der Volkszählung des Jahres 1834 wird Cilla (Silla) Margarete für das Haus Nr. 19A genannt. Cilla war seinerzeit 32 Jahre alt und lebte vom Tagelohn. Sie wird kaum die Mittel gehabt haben, das kleine, bescheidene Häuschen zu bauen. Dies werden eher ihre Eltern, der aus der Gegend von Leck nach Amrum eingewanderte Tagelöhner und Zimmermann Christian Christiansen (1759 – 1835) und seine Frau in zweiter Ehe, Marret Nahmens (1785 – 1817) getan haben. Zusammen mit ihrer am 22. Dezember 1802 geborenen Tochter Cilla Margareta (die übrigens unehelich geboren wurde, da ihre Eltern erst 1803 heirateten), haben sie das Haus bewohnt. Cilla hatte keine Geistesgaben und war auch handwerklich unbegabt. Sie blieb unverheiratet, und das war damals allgemein und auch auf Amrum gleichbedeutend mit lebenslanger Armut, denn die Versorgung für eine Frau war die Ehe.
Über Cilla Christiansen lässt die Lehrerin Ida Matzen ihren Vater Jacob Matzen in ihrem Buch “Kinder Frieslands” (1914) ausführlich erzählen: “Silla war arm an Geist und Gaben. Ihre Kenntnisse und Fertigkeiten reichten nicht aus, die einfachsten Handarbeiten zu begreifen. Strickt
e sie einen Strumpf, so fehlte der Hacken und mußte an der Türklinke ausgerenkt werden (…)”. Mit ihren Füßen vollbrachte sie einen schweren Dienst. Sie knetete Tag für Tag den gelben Lehm für die Bauhandwerker, die denselben als Mörtel benutzten. Das Häuschen hatte nur eine einzige Stube, und die Mauern bestanden überwiegend aus Klei- und Heidesoden. Die zum Heizen und Kochen nötige Heide wurde in dem offenen Raum an der Mauer gelagert und bot eine zusätzliche Stütze und Isolierung. Die offene Stube aber diente nicht nur zum Wohnen für Cilla und ihre beiden Kinder, sondern auch zur Haltung eines Schafes. Cilla hatte früher noch einige Schafe und dazu noch einiges Land. Aber dieses Land lag im Nordwesten der Norddorfer Marsch und wurde durch Wanderdünen ruiniert und durch Sturmfluten vernichtet. Für ihr letztes Schaf wird Cilla die große Wiese (Nr. 37) und im Winterhalbjahr die damals übliche “Freie Weide” für das Vieh genutzt haben.
Cilla war nicht verheiratet, hatte aber zwei uneheliche Kinder, die 1835 geborene Tochter Christina Maria Petersen (genannt nach ihrem aus Varde/Jütland stammenden Vater Peter, und den Sohn Simon, unehelich geboren 1838, Vater ungenannt. Damals wie heute ging es auf der Welt und auch auf Amrum in der Regel “menschlich” zu. Trotzdem waren uneheliche Kinder mit einem Makel behaftet und bedeuteten für die Mütter immer eine beschränkte Gefängnisbuße im Gefängnis der Birk Westerlandföhr-Amrum in Nieblum. Die Strafe wurde aber nur selten als unangenehm empfunden, denn in der Regel ging es den “Delinquentinnen” dort besser als in ihrem ärmlichen Zuhause auf Amrum, wo ledige Frauen oft nicht wussten, was sie am nächsten Tage zum Essen auf den Tisch bringen sollten.
Uneheliche Kinder kamen übrigens nicht selten vor. Wegen der hohen Todesrate unter den Seefahrern gab es immer einen oft beachtlichen Frauenüberschuss. Und eingewanderte Männer, meistens Landarbeiter aus Jütland/Dänemark oder auf Amrum gestrandete Seefahrer, wurden von der Damenwelt nicht verachtet.
Cillas Tochter ging als junges Mädchen “in Stellung” nach Föhr und blieb dann dort, ob verheiratet, wird in den “Geschlechterreihen der Insel Amrum” von Prof. Martin Rheinheimer nicht erwähnt. Über den Sohn Simon heißt es bei Ida Matzen, dass dieser ganz schnell zur See wollte, um Geld zu verdienen und seiner Mutter ein leichteres Leben zu ermöglichen. Aber daraus wurde nichts. Er verunglückte Anfang des Jahres 1862 auf See nahe Liverpool, und Schmerz und Trauer für die Mutter Cilla lassen sich kaum beschreiben.
Nach Cillas Tod im Jahre 1870 zog der aus dem Kirchspiel Deezbüll stammende “Knecht” (so wurden früher die Arbeiter in der Landwirtschaft genannt) Bernhard Johannsen mit seiner Ehefrau Anna geb. Petersen in das kleine Haus. Bernhard wurde 1839 geboren, seine aus Norddorf stammende Frau 1837. Das Ehepaar hatte 5 Kinder, von denen drei in die USA auswanderten. Auch Bernhard war in Amerika, kehrte aber bald wieder zurück. Als er am 2. Mai 1920 an Altersschwäche starb, wurde im Sterberegister notiert: “Kämpfte 1864 als Artillerist auf dänischer Seite” (1864 kam es zum Krieg zwischen Preußen/Österreich und Dänemark um die schleswig-holsteinischen Herzogtümer, Dänemark verlor und musste die Herzogtümer an die Siegermächte abtreten). Seine Frau Anna war schon am 9. Mai 1914 gestorben. Aber längst hatte die Familie Johannsen die kleine Kate im Süden außerhalb des eigentlichen Dorfes verlassen und war in das Haus Nr. 10 (heute der Familie Theodor Kölzow gehörend) gezogen.
In seinem Bericht “Norddorf im 19. Jahrhundert” schildert Richard Matzen, dass das kleine Friesenhaus im Jahre 1899 vom Zöllner Peter Flor gekauft wurde, der hier mit seiner Frau Ingke geb. Tönissen und einer großen Kinderschar lebte. Genau hatten Peter (1839 – 1922) und Ingke (1843 – 1925) 8 Kinder und trugen wesentlich dazu bei, dass der hochachtbare Familienname F l o r (begründet auf den Pastor Martin Flor, 1597 – 1686) nicht ausstarb, denn dieser drohte seinerzeit auf Amrum selten zu werden!
Natürlich waren die Klei- und Sodenwände zu Zeiten der Familie Flor, vermutlich auch schon durch Johannsens, durch solide Steinmauern ersetzt und im Innern des Hauses Wände eingezogen. Es blieb dennoch ein kleines Häuschen, und man kann nur darüber staunen, wie Familien mit so vielen Kindern hier leben konnten. Aber die Familie Flor hatte doch ihr Auskommen, denn der Vater Peter war zuerst Seemann und Schiffskoch und dann Kreuzzollmatrose. Letzteres war eines der wenigen damaligen “Staatsämter” mit einem festen Einkommen und deshalb bei den Männern der Insel sehr begehrt. Der Kreuzzoll, schon in dänischer Zeit gegründet und nach 1864 von den Preußen bzw. dem Deutschen Reich übernommen, bestand aus einer Flotte schneller Segler, die vor der Küste kreuzten oder einsatzbereit in Häfen lagen, um vorbeisegelnde oder einlaufende Schiffe auf Zollwaren zu kontrollieren.
Von den acht Kindern zogen zwei nach Föhr, die Tochter Philimine Rosette, verheiratet mit Lorenz Andresen aus Handewitt (Flensburg) war mit ihrem Mann einige Zeit in den USA. Und sie erbte das Haus, als Peter und Ingke hochbetagt 1922 bzw. 1925 gestorben waren.
In dem Haus haben anschließend einige Mieter gewohnt, am längsten wohl die Familie Magdalene (Lenchen) und Otto Hamel. Lenchen war eine geborene Johannsen. Otto wurde 1912 in Hamburg geboren und wollte eigentlich Seemann werden. Aber dann musste er doch bei einem Böttcher in die Lehre, wo er durch einen Unfall zeitlebens gehbehindert blieb. Über eine Arbeitsstelle in der Kinderheilstätte Satteldüne kam Otto dann Mitte der 1930er Jahre nach Amrum, arbeitete trotz seiner Behinderung vor und nach dem Krieg im Straßenbau, bei Landwirten und Amrumer Baufirmen und zuletzt in der Betreuung des Gemeindehauses Norddorf. Lenchen hatte zwei Söhne in die Ehe mitgebracht, dazu kamen dann noch zwei weitere Kinder, so dass die kleine Kate, nunmehr im Zentrum des Dorfes liegend, in allen Räumlichkeiten “ausgelastet” war – bis 1957 am Dünenrand von Norddorf ein eigenes Haus erbaut werden konnte.
Ein Häuschen im Hotelkonzern
Zu dieser Zeit gehörte das kleine Friesenhaus bereits zum Hotelgewese Hüttmann. Um 1952/53 hatte dessen Eigentümer Max Reese von der in Amerika lebenden Philimine Andresen das Haus gekauft und nutzte es – entsprechend renoviert und eingerichtet – für Personal. Unter den Nachfolgern (Fam. Kossmann) fanden weitere Renovierungen und die Einrichtung zu einer gemütlichen Ferienwohnung für zwei Personen statt. So ist es dann 2021 in die Hände des nächsten Besitzers, der CT-Immobiliengesellschaft in Hildesheim gekommen, und Abbruchmeldungen sind zunächst nur ein Gerücht.
Es wäre schön, wenn das kleine Friesenhaus als “Denkmal” aus dem alten Amrum erhalten bliebe!
2021 Georg Quedens Urheberrecht beim Verfasser