Amrum war früher in ornithologischer Hinsicht die Insel der Möwen. Fast ganzjährig prägten sie mit ihren Rufen und ihrer Erscheinung die Landschaft und den Himmel über Amrum und waren im Frühsommer ein wichtiger Lieferant von Eiern mit entsprechender Bedeutung für die Ernährung der Inselbevölkerung. Nur für einige Wintermonate waren sie seltener, fehlten aber als Stand- und Strichvögel nie ganz. Gleichzeitig stellen sie mit bis zu 7000 Paaren der HERINGSMÖWE den absolut dominierenden Anteil an Brutvögeln auf Amrum.
Seit einigen Jahrzehnten besetzen aber eindeutig drei Arten der europäischen WILDGÄNSE die erste Position der Amrumer Brut- und Gastvögel. Insbesondere sind es gegenwärtig die Unmengen an NONNENGÄNSEN, die von Mitte September bis Ende Mai die Insellandschaften bevölkern. Meine “Notizen aus der Amrumer Natur” melden für das Winterhalbjahr 2020/21 die Ankunft am 12. September und den Abzug Ende Mai. Und den Winter hindurch wurden immer wieder in der Wittdüner Marsch, in der Niederung “Guskölk” bei Süddorf, auf der gesamten Amrumer Feldmark (Inselgeest), in der Norddorfer Marsch und auf den Salzwiesen “Eer” an der Nordspitze Tausende Nonnengänse (auch Weißwangengänse genannt) notiert. Durchweg dürften es um die 3000, auf dem Höhepunkt bis zu 5000 Nonnengänse gewesen sein.
In einer Zeit, in der “alteingessene” Vogelarten (Feldlerche, Kiebitz, Rebhuhn u. a.) fast überall in Europa und damit auch in unserer Heimat verschwinden, vermehren sich einige Wildgansarten “wie die Karnickel”! Studierte Biologen haben dafür keine Erklärung, aber die Vermehrung kann nur über den Bruterfolg dieser Arten erklärt werden. Bekanntlich macht sich die Erwärmung des Erdklimas in der Arktis besonders bemerkbar, und eine verstärkte Vegetation auf Spitzbergen und in den anderen arktischen Brutgebieten dürfte die Ursache des Bruterfolges bzw. der Vermehrung sein. Denn alle Wildgansarten sind Vegetarier.
Auf Amrum waren Nonnen(Weißwangen-)gänse früher eine Ausnahmeerscheinung. Erst im November 2012 melden meine “Naturnotizen” eine kleine Schar in der Norddorfer Marsch, dann “zahlreiche” im November 2013. Aber im März 2014 sind es schon “an die Tausend”, ebenso 2015. Und von da an beginnen Nonnengänse, Luft und Landschaft zu beherrschen, auffällig auch durch ihre Ruffreudigkeit.
Weil sie noch vor wenigen Jahrzehnten an der Grenze zum Aussterben standen, wurden die Nonnengänse in fast allen betroffenen Ländern unter Naturschutz bzw. vollständige Jagdverschonung gestellt. Die nun aufkommende Forderung, die Wildgänse wieder zu bejagen, dürfte aber erfahrungsgemäß nur eine beschränkte Auswirkung auf die Vermehrung haben. Einige hundert Gänse jährlich abzuschießen, spielt für die Gesamtmenge keine Rolle. Bejagte Gänse werden auch rasch sehr scheu und fliegen dann woanders hin. Durch die Unruhe erhöht sich der Nahrungsbedarf, also die Schädigung der landwirtschaftlichen Äsungsflächen. Und das Problem wird nur von der einen Fläche zu einer anderen verlagert.
Selbst die im Frühjahr ausgebrochene Vogelgrippe hat für den Gesamtbestand keine entscheidene Auswirkung gehabt. Vogelwärter der Amrumer Odde sammelten längs des Strandes rund 180 tote Vögel, darunter etwa 70% Nonnengänse. Aber die Scharen auf den Wiesen und Feldern der Insel wurden nicht spürbar gelichtet. Anfang Juni besuchte sogar Daniel Günther, der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, höchstselbst den von Wildgansschäden betroffenen Hof Martinen in Süddorf. Allerdings war dieser Besuch unglücklich terminiert. Die Scharen der Nonnen- und Ringelgänse, die wenige Wochen zuvor noch die Insellandschaft bevölkert hatten, waren bereits auf dem Weg zu ihren Brutplätzen auf Spitzbergen und an den sibirischen Küsten. Und es war auch niemand informiert und zur Stelle, um dem hohen Besuch den Zustand der Salzwiesen am Wattufer bei Nebel und auf dem Vorland am Norddorfer Deich zu präsentieren, wo sich die Parole “Natur Natur sein lassen” auf dramatische Weise gegen die Natur entwickelt hat. Denn auf den Salzwiesen haben sich in den letzten Jahrzehnten einige wenige invasive Pflanzen, die Salzquecke und das Schlickgras, in einer halbmeterhohen Monotonie durchgesetzt und die vorherige Vielfalt der Salzflora unterdrückt. In der hohen Vegetation können aber auch keine der hier einst heimischen Wiesen- und Küstenvögel (Austernfischer, Säbelschnäbel, Rotschenkel, Lachmöwen u. a.) mehr brüten.
Nicht weniger schlimm: In hoher Vegetation können Wildgänse nicht mehr äsen. Sie sind auf landwirtschaftliche Wiesen, die beweidet oder gemäht werden, angewiesen. Und beide Salzwassergansarten, Nonnengans und Ringelgans, die früher sehr selten binnen des Deiches zu sehen waren, mussten nun auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen, Viehweiden und schließlich auch Getreidesaaten neue Nahrung suchen. Damit entwickelte sich eine Problematik, die auf Amrum zu einer erheblichen Reduzierung des Weideviehbestandes führte (der Zustand der Norddorfer Marsch ist ein Zeichen dafür). Andernorts, so auf Eiderstedt, haben Landwirte wegen der Gänseschäden ihre Betriebe schon aufgegeben. Denn überall, von Sylt über die Vorländer von Föhr und Amrum, die Riesenfläche vor Westerhever bis hinunter auf das Vorgelände von St. Peter-Ording, sind Quadratkilometer Salzwiesen als Lebensraum den heimischen Gast- und Brutvögeln entzogen worden, weil eine hartnäckige Ideologie eine Landschaftspflege, wie sie in anderen Naturschutzgebieten in aller Welt betrieben wird, verbietet.
In diesem Jahr (2021) kehrten die Nonnengänse schon früh aus ihren Brutquartieren zurück. Am 1. August wurden 27 Gänse in der Norddorfer Marsch notiert. Anfang September waren es schon an die 200!
Ringelgänse, auch Rottgänse genannt
Neben den Nonnengänsen spielen unverändert auch die Ringelgänse auf Amrum eine beachtliche Rolle. Auch sie kamen früher im Binnenlande nicht vor, sondern fanden ihre Nahrung auf den Seegraswiesen im Wattenmeer und auf den Salzwiesen in unmittelbarer Küstennähe. Zwar ist noch immer ein Teil der Ringelgänse auf den Amrumer Salzwiesen “Eer” und im Annland bei Norddorf zu sehen, aber es sind nur einige Dutzend. Die großen, bis an die Tausend zählenden Scharen aber bevölkern – wie ihre Verwandten – die Viehweiden und Getreidesaaten der Insel. Allerdings ziehen Ringelgänse, wenn sie – wie bei Gänsen üblich – im Herbst in Familienverbänden vereint sind, zunächst noch an Amrum vorbei bis nach Holland, England und weiter, und treffen erst Ende Januar/Anfang Februar auf dem Heimzug auf unserer Insel ein. Die “Notizen aus der Inselnatur” melden beispielsweise für das Jahr 2019 die Ankunft am 19. März, für 2020 am 3. März und für 2021 am 19. März. Gegenüber der nunmehr dominierenden Nonnengans tritt die Ringelgans mit höchstens bis zu tausend Exemplaren jedoch deutlich zurück. Und wie erwähnt, ist ein Teil der Ringelgänse unverändert – wie früher – auf den Salzwiesen zwischen Deichende und der Nordspitze zu sehen. Aber die sich inzwischen nach jahrzehntelanger Krankheit erholten Seegraswiesen (Zostera div.), die seit einigen Jahren nach stürmischer Witterung losgerissen wieder in den Flutsäumen am Wattenmeer zu finden sind, scheinen für die Äsung der Ringelgänse keine große Rolle mehr zu spielen. Diese lassen sich – wie die Nonnengänse – die Gräser auf den Viehweiden und Getreidefeldern schmecken und sind vermutlich nicht mehr an die Seegraswiesen im Wattenmeer zurückzugewöhnen. Eine entsprechende Untersuchung wurde ab 2005 über sieben Jahre durch das Nationalparkamt auf Salzwiesen an der Festlandsküste durchgeführt. Ergebnis: Die Wildgänse ließen sich nicht umorientieren. Sie blieben auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen!
Graugänse dominieren die Inselornis
Neben den genannten hochnordischen Wintergästen wird die Amrumer Vogelwelt von einer dritten Art geprägt, die über einen größeren Zeitraum dominiert, weil sie Brutvogel ist – die GRAUGANS. Die Graugans kommt in Europa mit zwei Rassen vor, die sich durch die Färbung des Schnabels unterscheiden. Die westlichen Art hat einen orangefarbenen, die östliche einen fleischfarbenen Schnabel.
Noch um 1950 ist das Brutvorkommen auf den Osten und Südosten Europas beschränkt. In Deutschland galten die Elbe mit Holstein als westlichste Verbreitungsgrenze. Nur für Holland werden vereinzelte Bruten genannt. Heute werden alle paar Jahre mausernde Altvögel und ihre noch nicht flüggen Jungen lokal eingefangen und mit Gas getötet, weil man sich der wachsenden Graugansscharen anders nicht mehr zu erwehren weiß! In weiten Teilen Europas ist die Graugans heute Brut- und lokal auch Problemvogel. Und für die teils explosionsartige Vermehrung in einer Zeit, in der andere Vogelarten verschwinden, gibt es nur einige Erklärungen.
Die Graugans wird hinsichtlich ihrer fast “menschenähnlichen” Lebensweise bei der Vermehrung sehr begünstigt. Gans und Ganter führen eine meist lebenslange Dauerehe. Der Ganter beteiligt sich nicht am Ausbrüten der Eier, aber bei der Betreuung der Jungen. Eine Gans legt 4-6 Eier, und in der Regel werden alle Gössel flügge. Eine Fasanenhenne, die um die 12 Eier legt, zieht nur einige Küken groß. Die zweite Ursache der Graugansverbreitung ist aber auch die Tatsache, dass vielerorts durch Jäger und Tierliebhaber Graugänse über Gehege eingebürgert und in die Wildbahn entlassen wurden. Gänse sind “Geselligkeitsvögel” und locken schnell weitere an. Nur so erklärt sich der rasche Zuwachs dieser Art in Europa!
Auch die Amrumer Graugänse gehen auf eine durch Menschen verursachte Einbürgerung zurück. Aus wenigen sind dann im Laufe einiger Jahrzehnte Tausende geworden, und nahezu die gesamte Insellandschaft ist inzwischen von Graugänsen besiedelt. Selbst in den Dünen, weit weg von Wasserstellen, ist überall Gänsekot zu finden. Offenbar bieten die harten Gräser der Sandsegge und des Silbergrases den Graugänsen geeignete Äsung.
Wie in den Vorjahren, so wurde auch im Jahre 2021 versucht, die Übervermehrung der Gänse durch Eiersammeln zu regulieren. Allein im Revier Norddorf wird das Wegnehmen von rund 2000 Eiern – die Gelege von etwa 500 Brutpaaren – gemeldet. Teilweise wird aber mit Rücksicht auf das besondere Eheleben der Gänse zum Ausbrüten und für die Aufzucht der Jungen e i n Ei im Nest belassen. Deshalb sah man auch in diesem Jahr etliche Paare mit nur einem Jungvogel. Aber wie erwähnt, werden fast alle Gössel flügge. Denn auch bei kalter und nasser Witterung sind die Jungvögel als Wasservögel von Nässe nicht bedroht. Und sie leiden als Vegetarier bei schlechtem Wetter auch nicht wie die insektenfressenden Singvögel und Fasane an Nahrungsnot. Offenbar haben auch Prädatoren angesichts der guten Betreuung der Gössel kaum eine Chance, diese zu erbeuten. Nahe der Norddorfer Marsch, dem Äsungsrevier der Gänse, brütet z. B. eine Rohrweihe. Aber kein einziges Mal wurde beobachtet, dass sie bei ihrem Jagdflug eine junge Graugans erbeutete, ja überhaupt den Versuch dazu unternahm.
Ein wichtiges Ereignis im Leben der Wildgänse ist die Mauser der Schwungfedern, die zwischen Ende Mai und Anfang Juli erfolgt. In dieser Zeit sind die Gänse flugunfähig und deshalb besonders scheu. Sie halten sich dann – ob mit oder ohne Jungen – immer in der Nähe von größeren Wasserstellen auf, die den flugbehinderten Gänsen, vor allem bei Nacht, einen Schutz bieten. Auf Amrum versammeln sich in der genannten Zeit besonders viele Gänse an den Teichen der ehemaligen Norddorfer Kläranlage. Hier wurden in diesem Jahr jeweils bis zu 500 Graugänse notiert, die eine Ahnung vom unverändert gewaltigen Zuwachs dieser Vogelart (die übrigens die Stammform der Hausgänse ist) in Europa vermitteln.
Die Natur hat es so eingerichtet, dass die Jungen um die gleiche Zeit flügge werden, wenn auch den Elternvögeln die neuen Schwungfedern wieder gewachsen sind, so dass sich die Familie geschlossen auf die Abreise machen kann.
Aus ornithologischer Perspektive ist Amrum ein – in heutiger Zeit – fast unglaubliches Naturparadies, ebenso nach Ansicht der meisten Inselgäste. Die letzten drei Amrumer Landwirte haben allerdings eine andere Meinung über die Gänsemassen, die von ihnen ernährt werden!
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