Innerhalb der Natur meldet die Vogelwelt seit jeher die größten Veränderungen. Vögel sind dank ihrer Flugfähigkeit die beweglichsten Lebewesen auf der Erde. Sie überwinden kurzfristig Zeitzonen und Kontinente, unabhängig von ihrer Eigenschaft als Zugvögel. In unserer engen Heimat gehört zu den auffälligsten Erscheinungen aus jüngerer Zeit die unfassbare Ausbreitung der Wildgänse. So war z. B. für die nach Osten vorkommende Graugans (Anser anser) in früheren Zeiten die Elbe in etwa die westlichste Verbreitungsgrenze dieser Art als Brutvogel. Nur wenige Jahrzehnte haben gereicht, um nahezu fast das gesamte West- und Nordeuropa zu besiedeln. Und die Nonnen- bzw. Weißwangengans (Branta leucopsis) ist gerade dabei, ihre arktischen Brutgebiete südwärts bis an die Nordseeküste auszudehnen. Ebenso haben sich zwei Möwenarten, die Heringsmöwe (Larus fuscus) und die Mantelmöwe (Larus marinus) von Norden und Osten kommend, den hiesigen Nordseeraum erobert. Auf Amrum ist die Heringsmöwe seit etlichen Jahren sogar die häufigste aller Brutvogelarten. In früheren Zeiten haben schon Eiderenten (Somateria mollissima) von Norden kommend seit Ende des 19. Jahrhunderts zunächst Sylt und Amrum (hier etwa um 1880) als Brutgebiet besiedelt und sich dann in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts über die ganze Nordseeküste bis hinunter nach Frankreich ausgebreitet. Und auf der Felseninsel Helgoland hat sich vor etlichen Jahren der Basstölpel (Sula bassana) mit inzwischen über 500 Brutpaaren etabliert.
Aber nicht nur See- und Wasservögel breiten sich längs der Küsten aus – auch Landvögel. Als Beispiel sei hier die Türkentaube (Streptopelia decaocto) genannt, die sich Mitte des vorigen Jahrhunderts von Südeuropa über West- und Nordeuropa verbreitete und um 1954 auch auf Amrum als Brutvogel notiert wurde. Zeitweilig wurde sie in den Inseldörfern so häufig, dass die Morgenruhe von Kurgästen erheblich gestört wurde und einige Insulaner heimlich und verbotenerweise die Tauben am Brutplatz abschossen. Derzeit ist die Türkentaube auf Amrum mit bis zu 15 Paaren unverändert Jahresvogel.
Etliche Singvogelarten wanderten ein, als nach den 1950/60er Jahren in den Dorfgärten vermehrt Bäume und Büsche angepflanzt wurden und auch die hektargroßen Aufforstungen auf Inselgeest und Heide noch jung waren und mit ihrem Buschcharakter vielen Singvögeln Brutplätze boten. Diese sind fast alle aus dem inzwischen hochgewachsenen Inselwald wieder verschwunden! Aber auch einige Brutvögel aus der traditionellen Inselfauna haben sich aus den hiesigen Regionen zurückgezogen, so der Seeregenpfeifer (fries. Mösk) und der Kampfläufer (fries. Walskhan). Ersterer wurde in den letzten zehn Jahren ungeachtet des riesigen Brutplatzangebotes (Kniepsand) nicht mehr registriert. Und vom Kampfläufer wurden Anfang der 1950er Jahre in der Norddorfer Marsch und im Anland letzte Bruten gefunden. Beide Arten gehören zur großen Vogelfamilie der Limikolen und sind mit Rotschenkel, Austernfischer usw. verwandt.
Zwei neue Brutvögel: Nilgans und Löffler
Vögel kommen und verschwinden. In den letzten Jahren wurden zwei neue Brutvögel für Amrum notiert, die nicht nur – wie vorher andere Arten – nur einmalig als Brutvögel vorkamen, sondern sich nun seit einigen Jahren fest etabliert haben. Dazu gehört seit etwa 2012 die Nilgans (Alopochen aegyptiacus). Die ursprüngliche Verbreitungskarte weist diese Wildgans als eine über ganz Afrika – mit Ausnahme des Nordens – verbreitete Art aus, die dort an fast allen Gewässern bis zu 4000 Metern Höhe vorkommt. Im Jahre 1963, also vor nunmehr 60 Jahren, hat der Verfasser diese Art an einem kleinen Steppensee im großen Naturschutzgebiet Serengeti in Ostafrika fotografiert. So weit muss man heute nicht mehr reisen, denn nun ist diese Gans, wie erwähnt, auch auf Amrum anzutreffen, wie übrigens auch in fast allen Ländern Europas. Doch hat sich die Nilgans keineswegs aus natürlichen Gründen über Afrika hinaus verbreitet, sondern verdankt ihre Anwesenheit bei uns vielmehr menschlicher Initiative – sie wurde nämlich hier ausgesetzt! Alle Vorkommen der Nilgans in Europa gehen zurück auf sogenannte “Zoo- bzw. Gefangenschaftsflüchtlinge”.
Diese wurden also zunächst als Ziergeflügel gehalten, sind dann aber aus Volieren und Gehegen in die Wildbahn entwichen oder sogar vorsätzlich ausgesetzt worden, weil die Tierhalter der Gänse überdrüssig wurden, denn Nilgänse gelten als aggressive Vögel, die sich mit anderen Arten nicht vertragen.
Diese Eigenschaft konnte durch Beobachtungen in der Norddorfer Marsch im Juni/Juli 2022 allerdings nicht bestätigt werden. Ein Nilganspaar mit Jungen hielt sich hier in der Nähe von Graugänsen mit Nachwuchs auf, und es gab niemals einen “langen Hals”, eine Giftigkeit gegen unmittelbar benachbarte Graugänse und Stockenten. Immerhin sind die Nilgänse mit diesem Ruf behaftet, und natürlich gehören sie nicht in die heimische Vogelwelt, schon gar nicht in ein Naturschutzgebiet wie die Amrumer Odde. Hier wurden Nilgansbruten nämlich im Jahre 2012 zuerst entdeckt, und zwar ein Gelege mit 12 Eiern. Um eine dauernde Ansiedlung und Vermehrung zu unterbinden, wurde der Bruterfolg allerdings verhindert, ebenso in den folgenden Jahren. Denn auch 2016 und 2018 wurden Bruten registriert, 2019 sogar deren zwei. Aber Ende September 2018 wurde im Anland südlich von Norddorf ein Paar mit zwei flüggen Jungen notiert, die irgendwo anders auf der Insel ausgebrütet und großgezogen worden waren. Die umfangreiche Verschilfung und der dichte Bewuchs der Norddorfer Marsch mit Binsen bieten den Nilgänsen eine ausgezeichnete Deckung. Ein Paar mit drei flüggen Jungen wurde 2021 in der Wittdüner Marsch entdeckt, aber von Amrumer Jägern teilweise abgeschossen. Man will – nach den Erfahrungen mit der Vermehrungskraft und den Problemen mit Graugänsen und den arktischen Wintergästen sich ähnliches mit einer weiteren Wildgansart ersparen.
Ganz überraschend wurde Ende Juli dieses Jahres ein weiteres Brutpaar mit Jungen entdeckt – auf einem Kniepsandsee hinter dem Inselbogen Hörn.
Löffler erobern die Nordseeküste
Nilgans und Löffler sind Vogelarten des Südens, die sich erst in der Gegenwart als Brutvögel im Norden etabliert haben. Mancher Zeitgenosse würde diese Tatsache nun gerne als Beweis für die Erwärmung des Erdklimas anführen, käme dann allerdings in Beweisnot, wenn er das Verhalten von Eiderenten, Mantelmöwen, Lachmöwen, Singschwänen, Nonnengänsen und anderen erklären müsste, die in jüngster Zeit von Norden kommend ihre Brutgebiete nach Süden ausgedehnt haben. Tatsächlich hat die derzeitige Klimaveränderung auf die Vogelwelt nur einen bedingten Einfluss, denn diese mussten in der Vergangenheit schon mit ganz anderen Temperaturen (Eiszeit) zurechtkommen.
Tatsächlich hat es schon um 1900 Löfflerbruten im Ringköbing-Fjord an der dänischen Westküste gegeben, und in den 1940er Jahren bildete sich eine kleine Kolonie in den Vejlerne in Nordjütland. Aber dieses Vorkommen war nicht von Dauer. Von größerer Beständigkeit war die Löffler-Kolonie auf der westfriesischen Insel Terschelling, und um 1950 betrug die Anzahl der Löffler-Brutpaare in Nordholland um die 500. Es war vorauszusehen, dass dieser zu den Storchenarten zählende Vogel auch bald auf den Ostfriesischen Inseln erscheinen würde, und 1962 wurde auf der Vogelinsel Memmert im Watt südlich von Juist die erste Brut gemeldet. Die Löffler breiteten sich weiter an der Nordseeküste aus, erreichten in den 1990er Jahren auch das nordfriesische Wattenmeer und bildeten zunächst eine Kolonie auf den Salzwiesen der Landgewinnung südöstlich der Hallig Oland. Doch erhielten die Löffler bald nächtlichen Besuch der über den Lorendamm herüberkommenden Füchse, so dass der Nachwuchs weitestgehend verlorenging, bis die Löffler schließlich die Hallig wieder verließen. Dafür bildete sich aber auf dem Deichvorland im Norden von Föhr eine Kolonie mit bis zu 50 Brutpaaren. Und auf Amrum wurden erste Brutpaare im Jahre 2017 registriert, ein erstes Gelege mit drei Eiern im Gebüsch des sogenannten Langtales auf der Odde.
Die storchengroßen Vögel haben ein fast schneeweißes Gefieder und sind deshalb weithin sichtbar. Trotzdem sind sie im Brutgebiet auffallend “unsichtbar”, weil sie sich dort kaum bewegen und auch nicht herumfliegen. Das erklärt, dass die Löfflerbrut mit der erfolgreichen Aufzucht von drei Jungen von den Vogelwärtern erst sehr spät entdeckt wurde. Löffler sind, wie erwähnt, Koloniebrüter, und so wurden schon im Jahre 2021 auf der Odde 7 Brutpaare registriert. Diese Anzahl wird auch für 2022 gemeldet.
Löffler bauen ihr umfangreiches Nest auf dem Boden, aber auch in bodennahem Gebüsch, wie es auf der Amrumer Odde zu finden ist. Ihre Nahrung suchen sie draußen im Watt, wo sie mit ihren langen, an der Spitze löffelartig verbreiterten Schnäbeln im flachen Wasser, ähnlich den Säbelschnäblern, hin- und hersieben, um Kleingetier zu erbeuten. Seltener sind Löffler in den Gräben und Kuhlen der Inselmarsch zu sehen. Die Nahrungssuche muss sehr erfolgreich sein, denn der Bruterfolg ist beachtlich. Fast immer sind alle Jungen – durchschnittlich drei im Nest – auf der Odde flügge geworden.
2022 Georg Quedens Urheberrecht beim Verfasser