Kirchenkampf ist ein böses Wort und erinnert an die Zeit des Nationalsozialismus als sich in den 1930er Jahren ein “Kampf” zwischen den Nazis und der Kirche entwickelte. Die Nationalsozialisten versuchten, die Kirche wie alle anderen Institutionen auf ihre unmenschliche Ideologie “gleichzuschalten”, als Teile der Kirche sich als “Bekennende Kirche” zum Widerstand entschlossen und mit Verfolgung und Schauprozessen überzogen wurden.
Auf Amrum kämpfte die Kirche, die St. Clemens-Gemeinde, in den 1880er Jahren nicht mit dem Staat, sondern hier gab es innerhalb der Gemeinde sozusagen einen “Bürgerkrieg” um die Reinheit der Lehre und die wahre Glaubensrichtung. Dabei wurden sogar die Spaltung der evangelischen St. Clemens-Gemeinde und die Gründung einer neuen Gemeinde ins Spiel gebracht.
Geschehen war Folgendes: Am 13. Oktober des Jahres 1875 starb in Nebel der Pastor Lorenz Friedrich Mechlenburg.
Drei Generationen der Familie Marstrand-Mechlenburg hatten über einen langen Zeitraum, von 1736 bis 1875, die Pastoren gestellt, unterbrochen nur von 1778 bis 1787. Und besonders der letzte der drei, Großvater, Vater und Sohn, war mit der Insel und ihren Menschen verwachsen. Er hatte eine inselfriesische Frau, die Tochter eines Austernfischers, geheiratet, sprach Öömrang, um deren Bewahrung er sich als einer der ersten bemühte, besser als jeder Uramrumer und hatte mit seiner Amtsführung und seinem Gottglauben keine Probleme. Aber nun ging es um die Nachfolge, um einen neuen Pastor für Amrum.
Die Inselbevölkerung war damals sehr kirchlich gesinnt. Fast jede Familie hatte z. B. in der Kirche einen traditionellen Sitzplatz in der Kirchenbank, ererbt, gekauft oder durch Los (Steedengripen) erhalten. Fotos aus den 1920er Jahren zeigen noch die Rückseiten der Kirchenbänke mit den Namensplaketten der Insulaner. Und der Kirchgang war sozusagen obligatorisch!
Durch Pastor Lorenz Friedrich Mechlenburg war aber unvermeidlich eine gewisse Volkstümlichkeit in das Kirchenleben gekommen, das durch den neuen Pastor einen erheblichen Bruch erfuhr. Dieser neue Pastor hieß Georg Leonhard Beck und stammte aus Bayern, geboren 1842 in Kreuzwertheim. Er hatte in Erlangen, Rostock und Leipzig studiert und kam über Husum, wo er Wilhelmine Caspars, Tochter des dortigen Probstes, geheiratet hatte, am 15. November 1875 als Pastor nach Amrum. In jener Zeit ging eine Welle der “Pietät” (Frömmigkeit) über das Land, und auch auf Amrum fanden sich Anhänger, so der Kojenmann Cornelius Peters, der Strandvogt Friedrich Erichsen und der Gemeindevorsteher Sönke Knudten, insbesondere aber der im Oktober 1865 als Lehrer und Küster (beide Ämter waren damals obligatorisch miteinander verbunden) nach Amrum berufene Bandix Friedrich Bonken, geboren 1839 auf der Hallig Gröde und allgemein “Böle” Bonken genannt.
Böle machte in der Folgezeit, bis zu seinem Tod im Jahre 1926 (aber aus dem Schuldienst und damit auch als Küster seit 1893 im Ruhestand) Geschichte durch Geschichten und insbesondere durch seine Schrullen, so dass er heute noch bei älteren Insulanern bekannt ist und in Nebel auch mit einem Straßennamen verewigt wurde.
Böle war als Diener der St. Clemens-Gemeinde, aber auch als Lehrer beinahe fanatisch fromm. Und obwohl die Amrumer damals kirchentreu und gottergeben waren, errichtete Böle in Nebel und Norddorf kleine “Missionshäuser” für die Sonntagsschule, um die Insulaner noch frommer zu machen. Natürlich hatte er in der damaligen Zeitenströmung eine gewisse Anhängerschar, die ihn auch bei dem Bau der Missionshäuser unterstützte. Aber seine übertriebene und fordernde Frömmigkeit erregte auch Widerstand und war schließlich auch der Anlass für seine vorzeitige Pensionierung durch die Schulbehörde im Jahre 1893.
Aber damit war sein Drang, seine Landsleute noch intensiver zu christianisieren, nicht erloschen. Er druckte fromme Traktate, war auf jedem “Missionsfest” auf den Inseln und in benachbarten Orten auf dem Festlande gegenwärtig. Hierbei machte er sich allerdings auch als einer der ersten Vorkämpfer für die Bewahrung der friesischen Sprache einen Namen. Die “Riege” der überfrommen Insulaner wurde später noch verstärkt durch die Lehrerin Ida Christine Matzen, geboren 1867 in Nebel, auf eigenen Wunsch im März 1902 an die Schule in Nebel versetzt.
In diese Zeit und in diese Gesellschaft des pietistischen Überschwangs passte der neue Pastor Georg Leonhard Beck geradezu als Krönung des religiösen Fundamentalismus nahtlos hinein. Pastor Beck machte sich durch seine Predigten schnell über Amrum hinaus bekannt.
… und knallte die Bibel auf den Altartisch
Der neue Pastor Beck passte also in diese überfromme Gesellschaft und übersteigerte sie noch durch sein fast fanatisches Wirken. Es sind aber nur die Stimmen seiner damaligen Gesinnungsgenossen zu Papier gebracht. Überschwenglich beschreibt die Lehrerin Ida Matzen in ihrem Buch “Kinder Frieslands” den Pastor, der “klar und unzweideutig predigte, dass Kirchlichkeit noch keine Frömmigkeit bedeute und es zweierlei sei, ein kirchliches Leben zu führen und ein bekehrtes Herz in der Brust zu haben (…). Ohne Menschenfurcht nahm er sich das Recht, auch öffentlich (von der Kanzel) Sünden zu rügen und sprach so deutlich, dass jeder wusste, was und wen er im Auge hatte” (so geißelte er im Gottesdienst die Ehescheidung eines ansonsten hochachtbaren Kapitänes eines Ostindien-Seglers).
“Der Pastor von Amrum ward als Sonderling verschrien, aber seine Reden wurden zu großen Erweckungspredigten, zu denen sich immer größere Zuhörerscharen einfanden. Unter der Kanzel saßen Gelehrte und Ungelehrte und von Föhr kamen lange Wagenzüge über das Watt…”
Nun war zwar auch auf Föhr immer eine bodenständige Frömmigkeit verbreitet, man darf aber auch annehmen, dass die öffentliche Bloßstellung von ehrbaren Insulanern (“Da sitzt der Ehebrecher…” – gemeint war der Kapitän Cornelius Bendixen, der sich Jahrzehnte zuvor (1859) von seiner Frau, einer Hamburgerin, hatte scheiden lassen) und die Schadenfreude ein Antrieb für die Föhrer war, bei Ebbe über das Watt nach Amrum zu kommen.
Pastor Beck scheute im Rahmen des Gottesdienstes auch nicht vor persönlichen Angriffen gegen Gemeindemitglieder zurück, so gegen den wohlachtbaren Nickels Johann Schmidt (Initiator der Vogelkoje Meerum und anderer wichtiger und wohltätiger Unternehmungen auf Amrum) und den Kapitän Großer Fahrt, Hinrich Philipp Ricklefs. Beide ließen sich die Ausfälle des Pastors aber nicht gefallen und übten ihrerseits Kritik, mit dem Ergebnis, dass Pastor Beck ohne zu grüßen mit raschen Schritten in die Stube von Nickels Johann Schmidt trat und beide Kirchenältesten entließ. Dazu war er aber nicht berechtigt, und der Streit eskalierte.
Aber Pastor Beck verlangte von den Familienvätern auch, dass sie ihre Frauen und Kinder dreimal täglich zum Gebet versammelten und die Feldarbeit mindestens einmal täglich für ein Gebet unterbrochen wurde. Als nach dem Staatswechsel von Dänemark zu Deutschland (1864/67) anstelle der bisherigen Bauernacht und der Bauernvögte in den Dörfern Norddorf und Nebel Gemeindevertreter und Bürgermeister gewählt werden mussten, verlangte der Pastor, dass Gemeindevertreter nur werden durfte, wer regelmäßig zur Kirche ging. Aber das wollten sich zahlreiche Amrumer nicht gefallen lassen “und liefen mit großem Geschrei aus dem Wahllokal”. Die Wahl musste wiederholt werden, wozu aber ein Gendarm von Wyk nach Amrum kam. Gewählt wurde dann aber doch zum Gemeindevorsteher (Bürgermeister) der ersten Amrumer Gemeindevertretung Sönke Knudten (1830 – 1907), der zu den Anhängern von Pastor Beck gerechnet wurde. Sönke Knudten war noch in den 1860er Jahren Kapitän und führte die Bark “Helene” von Altona nach Ostindien. Er muss gut verdient haben, denn sein Friesenhaus ist das einzige mit überbreitem Giebel in Nebel (es gibt auf Amrum nur noch ein zweites Haus mit überbreitem Giebel, das Stammhaus Quedens in Steenodde). Sönke Knudten blieb nur einige Jahre Vorsteher der damaligen Gesamtgemeinde Amrum und ging dann als überfrommer Mann in die Missionsanstalt nach Breklum. Hier ist er 1907 gestorben.
Pastor Beck gab keine Ruhe. Er warf die beiden Kirchenältesten Ricklefs und Schmidt während eines Gottesdienstes aus der Kirche und schlug im Zorn mit der Bibel auf den Altar. Beide wandten sich an das hohe Kirchenvisisatorium in Tondern und baten darum, “zu unserem Recht verholfen zu werden”. 55 Gemeindemitglieder unterschrieben eine Eingabe an die Kirchenbehörde und baten um umgehende Entlassung des Pastors, da dieser “die Erbauung in der Kirche stört und das Kirchegehen verleidet”.
Es entwickelte sich aber auch ein Streit über die Wohnverhältnisse im Pastorat. “Bei seinem Antritt im Oktober 1875 empfing ihn die Gemeinde mit offenen Armen… und der Pastor äußerte sich mit dem Pastoratshause sehr zufrieden…” Aber bald wurden immer neue Vorschläge für den Umbau des Hauses verlangt, “die mit dem Einkommen der Gemeinde nicht im Einklang standen”.
Als sich auf Amrum auch der Gedanke verbreitete, neben der St. Clemens-Gemeinde eine eigene St. Johannes-Gemeinde zu gründen, fanden sich dazu 75 Insulaner bereit, wobei wohl vor allem der fanatisch fromme Küster Böle Bonken eine treibende Kraft war.
Auf Amrum stand dieser “Kirchenkampf” auch innerhalb von Familien in höchster Blüte. Und nun sandte das Evangelisch-Lutherische Consistorio in Kiel den Superintendenten und den Consistorialrat zur Untersuchung nach Amrum. Diese kamen zu dem Ergebnis, “dass Pastor Beck mit Unverstand eifert und oft taktlos erscheint…” Mit Schreiben vom 5. April 1878 wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Als dann auch noch das “weltliche Gericht” von den Kirchenältesten in Anspruch genommen wurde und der Pastor zu einer Geldstrafe von 150 Mark, ersatzweise 14 Tage Haft, die Pastor Beck demonstrativ absitzen wollte, verurteilt wurde, war er auf Amrum nicht mehr zu halten. Er erhielt dann durch die Vermittlung seines Schwiegervaters, des Probstes Caspers in Husum, eine Stelle als Missionsdirektor in Hermannsburg, wurde anschließend von 1879 bis 1902 Pastor in Dietersdorf bei Nürnberg und starb als Emeritus am 15. April 1915.
Pastoren gründen ein Nordseebad
Der Nachfolger in der St. Clemens-Gemeinde hieß Wilhelm Tamsen, geboren am 21. November 1852 in Trittau. Ein Bild des Pastors hängt im Chor der St. Clemens-Kirche und zeigt einen nicht gerade robusten Mann.
Tatsächlich wurde Wilhelm Tamsen auch von Krankheiten gezeichnet, amtierte nur bis 1891 und folgte dann einem Ruf nach Glücksburg, wo er bereits im Oktober desselben Jahres starb. Seine Frau Anna war bereits im März, noch auf Amrum, gestorben. Das Ehepaar hinterließ drei Kleinkinder. Pastor Tamsen stand bei seinem Amtantritt auf Amrum vor der schwierigen Aufgabe, die beiden verfeindeten Seiten miteinander zu versöhnen, was ihm offenbar auch weitestgehend gelungen ist.
Aber dann folgte ein “weltliches” Problem, das die Insulaner wieder in zwei Parteien spaltete. Im September 1885 stellte ein Architekt namens Ludolf Schulze aus Waldhausen bei Hannover bei der Gemeindevertretung von Amrum den Antrag auf eine Badekonzession für die Anlage eines Seebades auf der noch unbesiedelten Südspitze Wittdün und malte dabei die “pekuniären”, also finanziellen Vorteile aus, die ein Seebad mit sich bringen würde. Die Gemeindevertretung lehnte den Antrag aber zunächst ab, weil man “den Verderb der guten hiesigen Sitten durch Badeleute” befürchtete. Aber wenig später staunten die Gemeindevertreter doch über die zahlreichen Anfragen nach Landkauf aus dem Deutschen Reich und über die Leute, die bereit waren, für offensichtlich wertloses Dünengelände (Wittdün, Satteldüne), weil für die Landwirtschaft unbrauchbar, viel Geld zu bezahlen. Auf Order der Obrigkeit waren sie deshalb bereit, im Oktober 1886 die Badekonzession zu erteilen, und Amrum wurde Nordseebad.
Aber Pastor Tamsen hatte über die Innere Misson den damals wegen seiner sozialen Werke in Bethel bei Bielefeld bekannten Pastor Friedrich von Bodelschwingh alarmiert, damit dieser mit einem “christlichen Seehospiz” ein Gegengewicht zum weltlichen Seebad errichten möge. Und dies geschah ab 1890 mit den Seehospizen oben bei und in Norddorf. So begründeten Pastoren ein Projekt, das sich bald zum größten Erholungswerk an deutschen Küsten entwickelte.
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