Achtung, Wildwechsel!


 

Bewohner und Kurgäste im Ortsteil Nebel Westerheide haben es im Laufe dieses Jahres immer wieder erlebt: Aus dem Fenster schauend oder im Garten sitzend hatten sie plötzlich “Rehe” vor Augen, die lautlos aus einem Gebüsch herausgekommen waren und relativ zutraulich an Gräsern und Gezweig knabberten und bald wieder im Dickicht verschwanden. “Rehe” auf Amrum!?

Aber es handelte sich nicht um Rehe, sondern um Damwild, gut erkennbar an den weißen Flecken im orangebraunen Fell. Und nun erinnerte man sich auch daran, dass irgendwann im Winter einige Damtiere aus dem Gehege an der Vogelkoje “Meerum” ausgebrochen waren, als durch einen bei einem Sturm umstürzenden Baum der hohe Maschendrahtzaun zu Boden gedrückt worden war. Vier Tiere des dortigen Damwildrudels waren durch die Lücke in die Freiheit gelangt, von denen nur zwei wieder in das Wildgatter zurückgeleitet werden konnten, während die beiden anderen weiblichen Tiere – Mutter und Kalb – in der “freien Wildbahn” verblieben und sich dort eingerichtet haben.

Damhirsche in freier Wildbahn, Jägersborg bei Kopenhagen

Das Damwild (lat. Dama dama) hat in Europa eine interessante Geschichte. Es ist fast eine Million (!) Jahre her, dass es noch weit verbreitet, wahrscheinlich auch im Bereich der damals landfesten Gegend um Amrum, seine Fährten zog. Aber dann kam die rund 800.000 Jahre dauernde Saale-Eiszeit und bedingte vor allem durch das Fallen des Meerespiegels um über 100 Meter eine grundlegende Neugestaltung der nordeuropäischen Landschaft und verdrängte auch die Fauna und Flora nach Süden – das Damwild bis nach Vorderasien. Die gegenwärtige Verbreitung dieser Wildart erfolgte erst nach dem Ende der Eiszeit, aber ausschließlich durch menschliche Einbürgerung schon seit der Römischen Kaiserzeit. Als Gatterwild waren die anspruchslosen Damtiere weithin beliebt, kamen in der freien Wildbahn jedoch seltener vor. In Schleswig-Holstein sind sie vor allem in den Buchenwäldern von Angeln an der Ostseeküste und in Holstein bekannt, wo sie in größeren Rudeln auftreten.

Damwildgatter in der Vogelkoje Meerum
Über die Einrichtung des heute noch bestehenden Damwildgatters an der Nordseite der Vogelkoje berichtet die Lokalzeitung “Der Insel-Bote” im Herbst des Jahres 1969: “Man verdankt das Gatter der Initiative des Bäckermeisters Herbert Schult aus Norddorf. Er hat zusammen mit sechs Norddorfer Bürgern für 1.500 Mark das Wild angeschafft.” Es handelte sich um einen Damschaufler (ein Hirsch mit schon ausgebildetem Geweih) und zwei weiblichen Damtieren. Zusammen mit Amrumer Jägern wurde die Ankunft des Damwildes im kleinen Kojenhäuschen mit einem kräftigen “Horrido” gefeiert.

Aber weil das Gehege und die Fütterung Geld und Arbeit kosteten, blieb ein Jäger nach dem anderen zu Hause, und nachdem der Hirsch auch dem Initiator einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte (in der Brunftzeit sind männliche Tiere vom Rehbock bis zum Rothirsch aggressiv und auch für Menschen lebensgefährlich), reduzierte sich die Versorgung auf den von der Kurverwaltung eingestellten Kojenbetreuer. Das war damals “Theo Sütjer”, Theodor Flor.

Für die Kurgäste, die damals wie heute in Scharen die Vogelkoje besuchten, waren die zutraulichen Damtiere natürlich eine Attraktion – aber für die hohen Naturschutzbehörden in Kiel ein erheblicher Störfaktor in den sich damals verstärkenden Naturschutzbestrebungen für die Insel Amrum. Das Damwild wurde als artfremd für die Inselfauna deklariert, und einige Male reisten Vertreter höchster Naturschutzbehörden an, um die Beseitigung des Geheges mitsamt Damwild zu verlangen.

Beispielsweise verfügte das Landesamt für Naturschutz am 2. Mai 1990 die Beseitigung des Geheges, “weil eine solche Anlage in einem Naturschutzgebiet nicht genehmigungsfähig ist”. Und am 13. Februar 1995 erließ der Kreis Nordfriesland eine Ordnungsverfügung über die “Auflösung und Beseitigung des Damwildgeheges (…) bis zum 31.12.1995” und verlangte “das betreffende Gelände zu rekultivieren und als Sukzessionsfläche liegenzulassen (…).” Entscheidungsgründe: “Sie betreiben dieses Tiergehege ohne die entsprechende Genehmigung (…). Dieses Gehege liegt im Naturschutzgebiet Amrumer Dünen und ist nicht genehmigungsfähig (…).” Ebenso wurde bemängelt, dass “das Gehege nicht die Mindestgröße von 1,0 Hektar hat und eine verhaltensgerechte Unterbringung der Tiere nicht gegeben ist.”

Inselfriesische Sturheit
Aber die Gemeindevertretung von Nebel wollte partout nicht gehorchen. Die obrigkeitlichen Anordnungen, die in den folgenden Jahren nach Besuchen hochrangiger Vertreter von Naturschutzbehörden der Landesregierung immer aufs Neue wiederholt wurden, blieben unbeachtet oder wurden von der Gemeindevertretung Nebel abgelehnt, besonders energisch durch Bürgermeister Horst Rorandt. Die Gemeinde war nämlich seit 1984 Eigentümerin der Vogelkoje Meerum geworden, und zwar durch eine günstige Klausel im Gesetz, die der beauftragte Hamburger Rechtsanwalt Dr. Bernhard Nissen für seine Mandantin in Anspruch genommen hatte. Die Vogelkoje mit dem großen Umfeld war ursprünglich Eigentum der “Kojen-Interessenten”, fast 100 an der Zahl. Aber weil der Entenfang seit Ende der 1930er Jahre eingestellt war, hatten die “Kojenaktien” ihren Wert verloren, und es gab keinen Vorstand und keine “Aktionärsversammlungen” mehr, und die Kojenanlage war 1952 für den symbolischen Betrag von einer D-Mark an die Kurverwaltung verpachtet worden. Von den Kurverwaltungen Nebel und Norddorf wurde sie dann als Ausflugsziel für Kurgäste eingerichtet.

Nun gab es aber die obige Klausel, die besagte, dass ein Objekt an den Pächter fällt, wenn sich der Eigentümer über 30 Jahre lange nicht beim Pächter gemeldet hat. Damit gelangte auch das Damwildgehege in die Zuständigkeit der Gemeinde bzw. Kurverwaltung Nebel.

Aber um diese Zeit hatte sich die Amrumer Jägerschaft, zunächst vertreten durch den Hegering, von der Betreuung und Finanzierung des Damwildgeheges verabschiedet, und Vergangenheit waren auch die jährlichen, von fröhlichen “Runden” begleiteten Feiern im Vogelkojenhäuschen aus Anlass des Geweihwechsels, wenn der Hirsch sein Geweih abwarf, um ein neues zu bilden.

Im Jahre 2001 endete schließlich der Streit mit den Landesnaturschutzbehörden: In einem Lokaltermin am 25. März kam das Verwaltungsgericht mit dem Präsidenten Krause zu dem Urteil, dass das Gehege Bestandsschutz hat, weil es schon Jahre vor dem Erlass der Naturschutzverordnung eingerichtet worden war.

Die Tiere aus der Anfangszeit sind natürlich längst in die “ewigen Jagdgründe” gewechselt, und es sind seitdem mehrere Generationen gefolgt, wobei die überzähligen Tiere mit Rücksicht auf Gattergröße und Lebensraum auf waidgerechte Art reduziert werden. Fast jedes Jahr wird ein Kalb geboren, aber man bemüht sich, das Damwildrudel auf einen Hirsch und zwei, drei weibliche Tiere zu beschränken. Die Betreuung liegt seit geraumer Zeit wieder in wildkundigen Händen, nämlich in denen von Knud Dethlefsen.

Natürlich sind die Damtiere handzahm und warten darauf, von Kojenbesuchern am liebsten mit Weißbrötchen gefüttert zu werden. Beim Hirsch sollte man allerdings in der Brunftzeit ab Ende September bis Anfang November dem Gehege nicht zu nahe kommen, weil der Hirsch mit den Zacken seiner Schaufeln in plötzlicher Wut durch den Drahtzaun stößt und insbesondere Kinder erheblich verletzen kann.

Einige Male sind bereits Damtiere ausgebrochen, hielten sich aber meist in der Nähe des Geheges auf  und ließen sich leicht wieder einfangen. Die beiden jetzigen “Gatterflüchtlinge” sind allerdings schon seit über einem halben Jahr in freier Wildbahn und werden immer scheuer. Es ist damit zu rechnen, dass sie aus ihrem Einstand in Nebel-Westerheide zu anderen Jahreszeiten auch in die östlich gelegene Amrumer Feldmark zum Äsen wechseln, und das bedeutet für Autofahrer, entsprechend aufmerksam zu sein und mit plötzlichem Wildwechsel zu rechnen. Immerhin wiegen weibliche Damtiere bis zu 50 Kilogramm, und ein Zusammenstoß kann böse Folgen haben!

Die freilaufenden Damtiere, hier in Nebel-Westerheide unterwegs.

Mit den freilaufenden Damtieren verbindet sich allerdings noch ein anderes Problem, das auf der Versammlung des Amrumer Forstbetriebsverbandes am 10. Dezember zur Sprache kam. Wie andere Cerviden (Rehe, Hirsche), knabbert Damwild gerne die jungen Triebe von Laubbäumen ab und richtet entsprechende Schäden in Forstkulturen an, so dass diese aufwändig geschützt werden müssen. Bekanntlich wurde der ursprünglich überwiegend aus Nadelbäumen bestehende Amrumer Wald nach Krankheiten bei Kiefern und Fichten und nach sturmbedingten Windbrüchen in den letzten Jahren umfangreich durch Laubhölzer ersetzt, um deren Bestand jetzt gebangt wird. Es wurde deshalb vorgeschlagen, das freilaufende Damwild, das der Gemeinde Nebel gehört, als “herrenlos” zu deklarieren und zum Abschuss freizugeben. Dagegen gab es jedoch auch ablehnende Wortmeldungen mit dem Hinweis, dass Wild zum Wald gehöre und von den Inselgästen begrüsst werde, und dass zwei freilaufende Damtiere kaum den umfangreichen Inselwald, rund 180 Hektar, gefährden könnten.

2022 Georg Quedens

Urheberrecht beim Verfasser

 

 

 

 

 

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Über Kai Quedens

Kai Quedens, Maler und Grafiker, der gerne auch ein bisschen textet. Geboren 1965, eine Frau, drei Kinder.

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