Eben südlich des Friesendorfes Nebel, dort, wo vor etwa 300.000 Jahren das gewaltigste Naturereignis der letzten Jahrmillion, die Saaleeiszeit mit etwa 18 Metern über dem Meeresspiegel den höchsten Punkt der Inselgeest hinterlassen hat, steht in Erwartung von häufigen und starken Winden ein Wahrzeichen der Insel Amrum – die Windmühle. Und gegenüber an der anderen Straßenseite liegt ein kleiner “Garten”, von einer Hecke mit Fliederbüschen umrahmt. Aber es ist kein Garten mit Gemüsebeeten und Beerensträuchern, sondern ein Gottesacker besonderer Art – ein Friedhof mit namenlosen, schlichten Holzkreuzen, Namenlosen- oder auch Heimatlosenfriedhof genannt, wie er auch auf manchen anderen Nordseeinseln zu finden ist. Denn dieser kleine Friedhof steht in unmittelbarer Beziehung zum Meer, mit den Toten, die als Seefahrer ihr Leben verloren und als unbekannte Leichen an den Inselstrand gespült wurden.
Die Seefahrt war in früheren Jahrhunderten ein Unternehmen mit großen Risiken. Schiffsunglücke, Strandungsfälle bedingten hohe Todesraten, ebenso die mit der Seefahrt verbundenen tropischen Krankheiten (Gelbfieber u. a.) oder die Mangelkrankheit Skorbut. Die Folgen waren regelmäßige und manchmal dramatisch häufige Leichenfunde auch an hiesigen Inselstränden. Wohin aber mit den Toten des Strandes, deren Namen und Herkunft in der Regel unbekannt waren, weil es die heutigen Identifizierungsmöglichkeiten noch nicht gab? Und wer wollte für die Beerdigung und die damit verbundenen Kosten zuständig sein? Und möglicherweise wurden durch die Strandleichen auch gefährliche exotische Seuchen verbreitet? Jedenfalls wurde diese Gefahr im 19. Jahrhundert als so groß in Betracht gezogen, dass man im Jahre 1831 auf der Odde, im Dünental Fleegham bei Norddorf und auf der Südspitze Wittdün Wachhäuser errichtete, die mit jeweils zwei Mann besetzt wurden, die verhindern sollten, dass Gestrandete, tot oder lebendig, mit Seuchen auf die Insel gelangen konnten. Bis 1835 waren die Wachhäuser mit Wärtern besetzt. Später wurde das Norddorfer Wachhaus in Fleegham von Albert Jensen abgebrochen und an die Strandstraße versetzt – heute Ladengebäude gegenüber dem Hotel “Seeblick”.
Die Toten des Strandes wurden deshalb jahrhundertelang einfach am Strand oder hinter der nächsten Düne vergraben, und damit war das “Problem” erledigt. Im Laufe des 19. Jahrhundert aber kam es zu pietätischen Regungen in der Küstenbevölkerung, und es verstärkte sich das Bestreben, den Toten des Strandes eine weihevollere Ruhestätte zu geben, waren sie doch als Seefahrer “Berufsbrüder der auch zur See fahrenden Insulaner”, wie es ein Sylter Strandvogt formulierte. Derselbe, Wulf Hansen Decker, war es dann auch, der im Jahre 1855 südlich von Westerland auf Sylt einen kleinen Acker für die Beerdigung von Strandleichen einrichtete. Seinem Beispiel folgten alsbald andere auf Inseln und Halligen und der deutschen Nordseeküste (Amrum, Pellworm, Helgoland, Neuwerk).
Ruhestätte für die namenlosen Toten des Inselstrandes
Der Heimat- oder Namenlosenfriedhof auf Amrum wurde im Jahre 1905 auf der Höhe bei Nebel eingerichtet. Angeblich soll der Kapitän Großer Fahrt Carl Jessen, der Tiefwassersegler der Hamburger Reederei Laeisz auf Salpeterfahrt zur Westküste von Südamerika führte, die kleine Landfläche für den Friedhof gestiftet haben. Aber das ist eine von den Nachkommen des Kapitäns erzählte Nachruflegende. Das Protokollbuch der Gemeinde Amrum verrät Genaueres. Am 22. Dezember des Jahres 1903 beschließt die Gemeindevertretung “(…) auf Antrag des Kirchenvorstandes die Hergabe von Gemeindegrund für die Anlage eines Friedhofes für Strandleichen”. Vermutlich hat Platzmangel auf dem St. Clemens-Friedhof rund um die Kirche zu dieser Maßnahme geführt. Denn für die zahlreichen Toten des Strandes erwies sich die Nordwestecke des Inselfriedhofes als zu klein, besonders als nach der Havarie des norwegischen Schiffes “Ilma” im gleichen Jahr 1903 nicht weniger als 9 Tote zu beerdigen waren.
Von dieser Zeit an haben bis zum Jahre 1954 31 Strandleichen ihre letzte Ruhestätte auf dem Heimatlosenfriedhof gefunden. Danach gelang es, angetriebene Tote direkt oder später zu identifizieren und zu den Angehörigen in die Heimatorte zu überführen.
Simon Peter Lont – ein Fischer aus Holland
An einem Tag im April 1967 kam ein Strandgänger in das Dorf und meldete den Fund einer Leiche. Strandvogt in Norddorf war der vierschrötige Landwirt Boy Heinrich Peters (“Boy Hennark”), der fast ein halbes Jahrhundert lang das Geschehen in seinem Bezirk, dem Norddorfer Strand, regierte und selbst in den Chaosjahren nach dem 2. Weltkrieg für die Befolgung des “Strandgesetzes” sorgte.
Boy Hennark informierte den Dorftischler Martin (“Make”) Peters. Damals wie heute hielten Inseltischler die Särge für die Toten der Insel bereit. Ein solcher wurde auf das Pferdefuhrwerk des Strandvogtes geladen, und Boy und Make fuhren nun zum Norddorfer Strand, um den Toten zu bergen. Ob zufällig für Landschaftsfotos unterwegs oder über den Vorfall informiert und mit dem Fahrrad hinterher – der Verfasser war mit der Kamera zur Stelle und konnte ein “historisches” Foto von der Bergung der Strandleiche machen.
In der Chronik von Pastor Pörksen ist zu lesen, dass am 30. April 1967 nach dem Gottesdienst in der St. Clemens-Kirche die Beerdigung auf dem Heimatlosenfriedhof stattfand. “Nach langen Jahren versammelten wir uns auf der höchsten Erhebung der Insel (…). Wir stellten die Feier unter den Psalm 93 und sangen: Ich stehe in meines Herren Hand …” Und der Müller Hans Kristensen hatte die Mühlenflügel ins Kreuz gestellt.
Aber eine Armbanduhr mit dem Namenskürzel S. P. L. sowie ein Kleidungsstück ermöglichten bald die Identifizierung des Toten. Simon Peter Lont – ein Fischer aus dem Ort Hippolytushoef bei Wieringen an der Wattenmeerbucht Den Helder in Nordholland. Dort war der Fischer verheiratet mit Trintje Ruut und Vater von 6 Kindern, die jüngsten ein Zwillingspaar von 12 Jahren. Der Vater war mit dem Kutter “WR 6 de Pieter Albert” zusammen mit zwei Fischereigehilfen ausgefahren und in einen schweren Sturm geraten. Als er nicht in den Hafen zurückkehrte, begann eine umfangreiche Suche, zunächst mit drei Flugzeugen, dann mit etwa 20 Kuttern. Aber “WR 6” wurde nicht gefunden und blieb bis heute mit seinen beiden anderen Toten verschollen. Beinahe wäre auch noch der älteste Sohn des Ehepaares Lont bei dem Unglück ums Leben gekommen, wäre er nicht an dem Tag wegen anderer Aufgaben an Land geblieben.
Bekanntlich dreht sich die atlantische Gezeitenwelle in der Nordsee an der britischen Ostküste über Holland und Niedersachsen nach Norden an der schleswig-holsteinischen Westküste zurück. Und so war es die Regel, dass ein vor Holland ertrunkener Seemann in diese Richtung treiben musste. Was dann auch wie beschrieben geschah. Nach der Identifizierung des holländischen Fischers und der Benachrichtigung der Familie machte diese sich sofort mit zwei Autos auf den Weg nach Amrum. Auf der Fahrt dorthin wurde die Familie Lont aber südlich von Husum in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt, und die Mutter musste schwerverletzt Monate im Husumer Krankenhaus liegen, während sich die Familie auf dem Campingplatz Schobüll einrichtete und von dort aus nach Amrum fuhr, um das Grab des Vaters auf dem Heimatlosenfriedhof zu besuchen. Erst zwei Monate später konnte dann auch die Mutter folgen. In seiner Chronik beschreibt Pastor Pörksen die besonders innige Beziehung zur Familie Lont: “Im Pastorat lernten wir uns kennen. Die ältesten Kinder sprachen deutsch, die jüngsten, 12jährige Zwillinge, konnten alles verstehen. Sie sagten: “Wir fühlen uns hier wie zuhause”. Dann erzählten die Älteren, der Vater sei am 11. Januar in einer Sturmnacht mit seinem Fischkutter gesunken. Nur durch einen Zufall sei der älteste Sohn nicht an Bord gewesen…”.
Über die Nordsee von Holland nach Amrum
Nachdem Familie Lont und Freunde beschlossen hatten, den Leichnam des Vaters heimzuholen, fuhren sie mit zwei Schiffen, WR 69 und WR 71, nach Amrum und holten den Sarg in die Heimat. Dort wurde er nach dem Gottesdienst in der übervollen mennonitischen Kirche in Hippolytushoef auf Zandburen beigesetzt.
Die Beziehung zur Insel Amrum fand vier Jahre später noch einen besonderen Ausdruck, als Pastor Pörksen mit dem Posaunenchor auf der traditionellen Jahresreise nach Wieringen fuhr, wo man die Familien Lont und den Friedhof besuchte und der Amrumer Posaunenchor einige Choräle blies. Anschließend gab es mit über 30 kleinen und großen Amrumern Kaffee und Kuchen im Hause Lont.
Das Schicksal des holländischen Fischers Simon Pieter Lont blieb nicht das einzige in Verbindung mit dem Amrumer Heimatlosenfriedhof. Auch zu Pastor Segschneiders Zeit trieb die Leiche eines holländischen Fischers an, der ebenfalls anhand von Kleidungsstücken identifiziert und später in den Heimatort überführt werden konnte. Die Familie Lont aber hat ihre Beziehung zu Amrum fortgesetzt – zuletzt noch im vorigen Sommer kam sie zu Besuch auf die kleine Nordseeinsel, dessen Heimatlosenfriedhof auf tragische Weise mit der Familie verbunden ist.
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