Wer in diesem Winter über Amrums Geestrücken gelaufen ist, konnte eine erstaunliche Feststellung machen: Amrums Gänse fressen Rüben!
Drei Arten von Wildgänsen kommen auf Amrum vor:
Da sind zum einen die Graugänse, die das ganze Jahr über die Wiesen und Äcker der Insel bevölkern und hier auch ihren Nachwuchs aufziehen. War vor 75 Jahren das Brutvorkommen dieser mittlerweile hier in großen Massen auftretenden Vögel auf südöstliche Gebiete Europas beschränkt, so hat sich die Vermehrung in unseren Breiten in den letzten Jahrzehnten nahezu explosionsartig entwickelt. Dies bringt durchaus auch Probleme für die Insel Amrum mit sich. So verschwinden andere Vogelarten, wie z. B. Feldlerche und Kiebitz, da sie buchstäblich ihrer Nahrungsgrundlage entzogen werden, denn die riesigen Gänseschwärme fressen alles kahl. Immerhin vertilgt eine erwachsene Gans zwischen 600 bis 1000 Gramm Gras pro Tag!

Das missfällt auch den Amrumer Landwirten, derer es nur noch drei auf der Insel gibt, finden doch ihre Rinder auf den Weiden keine ausreichende Nahrung mehr und müssen bei der Stallhaltung beigefüttert werden. Auch die vielen Pferdebesitzer bangen um das Kahlfressen auf den Koppeln, und die massenhaften „Hinterlassenschaften“ der Tiere sind nicht gerade besonders ansehnlich.

Die Gänse fressen Gräser, Wurzeln, Kräuter und suchen im Winter auch Mais- und Getreidefelder heim, da zu dieser Zeit das Gras nicht ausreichend nachwächst. Und wenn sich die Gelegenheit bietet, machen sie sich sogar über die (noch) nicht abgeernteten Rübenfelder her. Dies war dieses Jahr v. a. im Januar besonders auffällig, da die Rübenernte sich auf Grund eines technischen Defekts an der Erntemaschine des Süddorfer Bauern Oke Martinen nicht hat stattfinden können.

Die zweite in Unmengen auf Amrum sich wohlfühlenden Wildgänse sind die Nonnengänse, die sich zumeist in der Zeit von September bis Mai zu Tausenden v. a. in der Wittdüner sowie Norddorfer Marsch, in der Niederung „Guskölk“ und auf dem gesamten Geestrücken tummeln. Früher waren die Nonnengänse (auch Weißwangengänse genannt) die Ausnahme. Berichtet der Heimatforscher Georg Quedens im Jahr 2012 noch über eine nur kleine Schar in der Norddorfer Marsch, so waren es im Winterhalbjahr 2020/21 bis zu 5000 Gänse! Die Naturschutzkoordinatorin der Amrum Touristik, Hanna Zimmermann, berichtet, dass diese Zugvögel eigentlich nur darauf warten in den arktischen Norden zu ziehen um sich dort zu vermehren. Allerdings sind jedoch auf Föhr bereits vereinzelte Brutvorgänge der Nonnengänse beobachtet worden, was wohl auch ein Effekt des Klimawandels sein dürfte. So muss man sich wahrscheinlich in Zukunft auch auf Amrum darauf einstellen, dass noch mehr „Zugvögel“ hier heimisch werden und in dauernde Konkurrenz um Futter mit den anderen Vogelarten, den Rindern und Pferden, sowie den Menschen treten.

Die dritte auf Amrum vorkommende Wildgansart ist die Ringelgans, auch Rottgans genannt. Auch diese Gänseart spielt auf der Insel eine beachtliche Rolle. Bis zu an die tausend Tiere zählenden Scharen fressen die Viehweiden und Getreidesaaten der Insel zumeist ab Ende Januar/Anfang Februar kahl, wenn sie sich auf ihren „Rückflug“ von Holland oder England in Richtung Arktis befinden. Allerdings berichtet auch hier Georg Quedens darüber, dass die Anzahl der Ringelgänse sich gegenüber der nunmehr dominierenden Nonnengans deutlich verringert hat.

Das Wegfressen v.a. von Getreidesprösslingen hat in den letzten Jahren so überhandgenommen und zu einem so großen wirtschaftlichen Schaden geführt, dass von den Landwirten kaum mehr frühaustreibendes Getreide wie Roggen oder Weizen angebaut wird. Die Umstellung auf Mais ist nun die Alternative, da dieses Getreide viel später austreibt, dann wenn die „Zugvögel“ schon die Insel verlassen haben. Zumindest die Graugänse bleiben allerdings (s.o.). Dieses landwirtschaftliche Vorgehen erklärt die vielen im Spätsommer hochstehenden Maisfelder, über die sich durchaus schon mal „beschwert“ wird, da sie „die Sicht wegnehmen“.

Die Zeiten und die Natur verändern sich. Möglicherweise ist irgendwann einmal die Zeit der Zugvögel vorbei und alle werden auf Amrum sesshaft. Spätestens dann wird sich auch die Frage, was für eine Gans es war, auf der Nils Holgerson in dem im Jahr 1906 von der Schriftstellerin Selma Lagerlöf veröffentlichten Roman „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgerson“ über Schweden gereist ist, erübrigt haben.