Das kann es hier doch wohl nicht geben! Im idyllischen Nachbarschafts- und Gemeinschaftsleben, weit weg von den Einbrechern, Drogen- und Bandenkriegen in Berlin, Frankfurt oder Köln! Und doch! Auch auf der abseits liegenden, gesellschaftlich weitestgehend wohlgeordneten Insel geht und ging es heute wie früher wie andernorts “menschlich” zu. Zwar schrieb die Gemeindevertretung der Insel Amrum am 3. September des Jahres 1885 an den hannoverschen Architekten Ludolf Schulze nach Ablehnung seines Antrages, auf Amrum ein Seebad zu gründen, “daß die sittlichen Verhältnisse hier so befriedigend sind, daß bei einer Seelenzahl von 6-700 Einwohnern nach Ausweis der Statistik in den letzten 50 Jahren nur etwa alle zehn Jahre ein uneheliches Kind geboren wird”. Aber das war gelogen! Allein in Nebel wohnte in jener Zeit eine Frau, die sechs (6!) uneheliche Kinder geboren hatte, wobei mehrere Männer als Väter “ausgelegt” wurden. Das Geburtenregister der St. Clemens-Gemeinde registriert darüber hinaus auch weitere uneheliche Kinder. Aber sonst war das sittliche Leben auf Amrum derart gefestigt, dass wirklich kriminelle Taten praktisch nicht vorkamen und es deshalb im “alten Amrum” keine Polizei gab. War etwas “dramatisches” vorgefallen, kam ein Polizist von Wyk herüber. Erst nach 1900 wird – zumindest während der Zeit des Fremdenverkehres in den Sommermonaten ein Polizist gemeldet. Piedesack hieß der uniformierte Herr, der sich in den 1920er und 1930er Jahren auf Amrum nachweisen lässt. Wurden trotzdem im 19. Jahrhundert einige Male Insulaner, Männer wie Frauen, zu Gefängnis-, ja zu Zuchthausstrafen verurteilt, so geschah dies auf Grund von “Strandräuberei”, d. h. der Unterschlagung von Strandgütern aus gestrandeten oder gesunkenen Schiffen oder von lose angetriebenem Strandgut. Aber die in den bestehenden “Strandgesetzen” genannten Delikte galten für die Insulaner nicht als “kriminell”. Man durfte sich nur nicht vom Strandvogt erwischen lassen!
Totschlag oder Unglücksfall?
Ein noch heute bekannter und immer wieder in Kreisen älterer Insulaner erwähnter “Kriminalfall” ereignete sich in der Nacht des 30. Januar 1922 in einem überaus strengen Winter. Am Morgen des obigen Tagen fanden Kinder auf dem Weg von Süddorf nach Nebel nahe Huuchstian einen Toten, den Zimmermann Gerret C. G. aus Süddorf, Haus Nr. 106. Der Tote war am vorherigen Abend bei einer Tanzveranstaltung im Hotel Friedrichs in Nebel gewesen und soll dort auch Musik gemacht haben. Gerret war verheiratet mit Emilie Amalie Köster, der Tochter des Süddorfer Landwirtes Martin Köster. Das Ehepaar hatte elf (11!) Kinder, von denen nur eines gestorben war – angesichts der damaligen hohen Kindersterblichkeit ein seltenes Faktum.
Gerret soll kein guter Ehemann gewesen sein. Offenbar war er wegen der häuslichen Verhältnisse nicht ganz beliebt, und daraus erklärt sich dann möglicherweise auch die nachfolgende Tat. Als sich Gerret C. G. – vielleicht angetrunken – nach der erwähnten Veranstaltung auf den Heimweg machte, gingen zwei junge Männer, Walter B. und Martin K. hinterher und versetzten ihm einen Schlag, so dass er zu Boden stürzte. Die beiden Männer waren Neffen des Gestürzten und wollten endlich einmal ihre Tante “Milli” rächen. Gerret kam durch diesen Schlag ums Leben – getötet vom Schlag oder ohnmächtig in der eiskalten Nacht erfroren? Diese Frage wurde offenbar nicht geklärt, denn es konnte keine Obduktion stattfinden, weil das Watt zugefroren war und kein Dampfer fuhr.
Die Nachricht vom Tod des Familienvaters ging wie ein Lauffeuer über die Insel. Und als die Botschaft in das Haus B. in Steenodde kam, soll der junge Walter bestürzt gestöhnt haben: “Do san ik det weesen” – dann bin ich es gewesen. Aber weil die Insel monatelang vom Eis eingeschlossen und vom Festland abgeschnitten war, kam es nie zu einer genauen Untersuchung und zu einem Gerichtsverfahren. Wilma Blechenberg verweist allerdings auf die Zeugenladung des Nachbarn Hermann Ottens. Walter B. und Martin K. sind dann unmittelbar darauf nach Amerika ausgewandert und haben sich dort in New York etabliert, während über ihre Tat auf Amrum je nach Stimmung und Verwandschaftsgrad noch lange von Mord oder von Unglücksfall gesprochen wurde.
Der Tote von “Borag”
Ebenso ungeklärt blieb Jahrzehnte später ein anderer Mord oder Totschlag auf Amrum, der sogar ein Kriminalinstitut in Berlin beschäftigte. Auslöser war der Fund eines Skeletts in einem Hügel am Wattufer südlich von Norddorf, “Borag” genannt, weil hier in der Wikingerzeit eine Art Turmburg gestanden haben soll und sich vorzeitliche Hügelgräber auf der Anhöhe befanden. Im Jahre 1905 waren die Thilos zum ersten Mal als Gäste im Seehospiz nach Amrum gekommen, kauften 1907 das Friesenhaus der verstorbenen Witwe Keike Gerrets und etablierten sich über den jährlichen Urlaub hinaus in Norddorf auf Amrum. In der nächsten Generation kaufte dann der Sohn Ulrich den Boy Peters gehörenden Hügel und ließ hier ein stolzes Friesenhaus, die spätere Teestube, errichten, die 1962 abbrannte, aber im Original wieder aufgebaut wurde. Beim Aushub für Kellerräumlichkeiten stießen die Arbeiter – darunter Ernst Peters – auf ein Skelett und hielten dieses zunächst für einen “alten Germanen”, zu den vorgeschichtlichen Grabstätten gehörend. Der gut erhaltene Schädel geriet in den Besitz der jugendlichen Nichte von Thilo, Gisela Remy, die den Schädel in ihr Mädchenzimmer stellte und mit einer Kerze dekorierte – zum Schaudern ihrer Freundinnen im Dorf.
Aber dann setzte sich bald die Erkenntnis durch, dass ein so gut erhaltenes Skelett nicht von einem bronzezeitlichen Germanen stammen könne, und bald waren Amtsvorsteher Mechlenburg, der Bürgermeister Martin Paulsen, Wachtmeister Piedesack und Dr. Wilhelm Ide zur Stelle. Und Letzterer bestätigte dann die Erkenntnis “alter Germane”, so dass Gisela den Schädel wieder mit nach Hause nehmen durfte. Inzwischen verbreitete sich auf der Insel aber das Gerücht von drei Föhrern, die aus Amerika zu Besuch auf der Heimatinsel und über das Watt nach Amrum gekommen waren, um in der “Erholung” in Nebel an einem Tanzvergnügen teilzunehmen. Aber von den dreien kehrten nur zwei zurück, die dann überhastet wieder nach Amerika zurückreisten. Und weil am Wattufer nahe “Borag” ein Kleiderbündel gefunden worden war, verbreitete sich die Vermutung, dass der dritte Mann von seinen Kameraden ermordet und auf dem Burghügel vergraben worden war. Wieder trat Wachtmeister Piedesack in Aktion, ließ sich von Gisela einen Oberschenkelknochen geben und sandte diesen an einen bekannten Orthopäden in Flensburg zwecks genauerer Untersuchung und Bestimmung des Alters. Ohne Resultat! Aber Piedesack gab keine Ruhe. Er hatte gehört, dass Gisela Remy (später verheiratete Ruth) einen Onkel in Berlin hatte, der ebenfalls Orthopäde war. Und als Gisela nach Berlin fuhr, bat der Amrumer Wachtmeister, dort die Gebeine des “Borag-Toten” vorzulegen, was auch geschah. Onkel Rudi, der emeritierte Professor der Orthopädie, besah sich den Schädel ganz genau und konstatierte: “Höchstens 25 Jahre in der Erde, aber nicht durch einen Schlag auf den Kopf umgekommen, sondern vermutlich durch Messerstich”.
Die Knochen wurden nach Amrum zurückgeschickt. Und der Tischler Hinrich Bork aus Norddorf machte einen kleinen Sarg, der vom Gemeindearbeiter Nanning Martens zum Heimatlosenfriedhof befördert und dort von Pastor Erich Pörksen bei “Sturm und Regen und mit Gesang” beerdigt wurde. Das geschah laut Tagebuch des Lehrers Heinrich Arpe am 10. April des Jahres 1938. Allerdings wurde für das Grab kein Holzkreuz mit Datum spendiert.
Heinrich Arpes Tagebuch verrät auch einige Fakten über den Vorfall: Unter dem Datum vom 21. Februar 1936 heißt es “über das seinerzeit gefundene Gerippe, daß vor 35 – 40 Jahren ein Schwede, ein Däne und ein Mann von unbekannter Nationalität über das Watt nach Amrum kamen, von denen nur der Letztere heimkehrte. Später traf dieser den Schweden beim Kanalbau (1895) in Rendsburg wieder, wo er ihm vorwarf, den Dänen auf Amrum ermordet zu haben. Seit dieser Zeit ist der Schwede verschwunden. Da die Namen der drei unbekannt sind, hat die Polizei weitere Nachforschungen aufgegeben”. (Mit den heutigen kriminaltechnischen Mitteln wären sicherlich genaue Fakten zu ermitteln gewesen.)
Mit dieser obigen Nachricht ist auch der Verdacht von den Föhrern genommen. Tatsächlich sind das Verschwinden eines Föhrers und die schnell nach Amerika abgereisten Brüder gänzlich unbekannt. In der fraglichen von Gisela Ruth genannten Familie hat es nur einen Sohn gegeben, und dieser ist nie in Amerika gewesen. Ebenso hat eine Durchsicht der “Geschlechterreihen St. Laurentii-Föhr” als Nachtrag von Lorenz Braren (1949 und 1999) keinen Hinweis erbracht. Dieses erschütternde Ereignis hätte natürlich auch in der Föhr-Literatur seinen Niederschlag gefunden. Aber kein Wort davon!
Ein Toter im Dünensand
Vollständig aufgeklärt und abgeurteilt ist hingegen ein jüngster Mord auf Amrum, geschehen im April 2017. Es ging hier um drei junge Männer, einen Flüchtling aus dem Irak, einen auswärtigen Saisonarbeiter und einen Einheimischen, die zusammen wohnten. Die drei waren plötzlich von der Insel verschwunden, und nur zwei kehrten später als Einbrecher in ein Wittdüner Geschäft zurück. Der Dritte blieb seit April verschwunden, und es verstärkte sich der Verdacht, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei. Es folgte eine aufwändige Suchaktion, vor allem im Bereich der Wittdüner Dünen, und am 12. Oktober 2017 wurde die Leiche des Irakers in zwei Metern Tiefe gefunden. Er war von seinen Begleitern zu Boden geschlagen und erstochen worden, weil er angeblich die Schwester des einheimischen Mittäters vergewaltigt haben sollte. Das Landgericht Flensburg erkannte am 21. Mai 2018 auf Mord und verurteilte den älteren Täter zu lebenslanger Haft und den Jüngeren zu einer Jugendstrafe von siebeneinhalb Jahren.
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