Amrum war seit jeher die “Insel der Strandungsfälle”, dank der draußen am Horizont liegenden hohen Seesände (Hörnum-Knob, Theeknob, Holtknobber und Jungnahmen) sowie des umfangreichen, im Süden von Amrum liegenden Seesandes. Ebenso war die Insel umgeben von zahlreichen Untiefen, an denen immer wieder Schiffe strandeten und zerbrachen, insbesondere an der eigentlichen Westküste von Amrum mit dem zunächst weit in See greifenden Kniepsand, der sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts parallel zum Inselstrand entwickelte. Es gibt deshalb an der deutschen Nordseeküste keine andere Location mit so vielen Strandungsfällen wie Amrum!
Für die Insulaner spielten Strandungsfälle eine große Rolle, vor allem für den ärmlichen Teil der Inselbevölkerung. Strandungsfälle sorgten für Strandgut, das widerrechtlich geborgen und heimlich in die Häuser getragen wurde, aber sie vermittelten auch legalen Gewinn in Form von Bargeld, wenn Schiffsgüter oder gar ein havariertes oder gestrandetes Schiff geborgen, wieder “abgebracht” wurde, wie es damals hieß. So entwickelten sich bei Meldung eines Strandungsfalles von der Insel aus wahre Wettläufe, um das gestrandete Schiff zu erreichen und das Bergungsrecht in Anspruch zu nehmen. Dabei scheuten die Amrumer oft weder Tod noch Teufel. Besonders tragisch war die Strandung der Rostocker Bark “Horus” am 9. Dezember 1863 auf Hörnum-Sand querab des Norddorfer Strandes. Von der Flotte der Austernfischer, die wegen des Sturmes im Kniephafen vor Anker gegangen war, lösten sich etliche Ruderboote mit wagemutigen Mannschaften, und es begann ein wahrer Bergungswettlauf. Aber die Boote kamen nicht weit. Zwei davon kenterten unmittelbar in der Brandung vor dem Inselstrand, und neun Männer, darunter sechs Familienväter, ertranken, während sich die anderen Boote wieder in die Sicherheit des Kniephafens zurückflüchteten.
Ein ganz besonderer Strandungsfall, der sich später regelrecht zu einer Attraktion für die Kurgäste der Insel entwickelte, begann im Jahre 1923. Zunächst war der mächtige Rumpf eines gekenterten Schiffes, das als Motorschoner “Hermina” identifiziert wurde, im November 1923 auf der Sylter Südspitze Hörnum angetrieben und machte die Insulaner mobil, sowohl die Sylter aus dem Dünendorf Rantum, zu dessen Gemeinde das noch unbesiedelte Hörnum gehörte, als auch die hinübersegelnden Amrumer, die bei Strandungs- und Strandgutfällen auf Hörnum immer schneller zur Stelle waren als die Rantumer, die von ihrem Dorf bis Hörnum Odde um die 15 Kilometer durch die Dünen stapfen mussten. Allerdings konnten die Amrumer mit dem großen, gekenterten Schiffsrumpf nichts anfangen, zumal dieser platt auf dem Boden lag und keinen Einstieg ermöglichte.
Aber bei einem Sturm am 3. Februar 1924 trieb der Schiffsrumpf wieder auf und hinüber nach Amrum, wo er auf dem Kniepsand südwestlich des Leuchtturmes erneut strandete, aber bei andauerndem Sturm und Hochwasser schon in der folgenden Nacht erneut auftrieb und dann auf dem Kniepsand vor der Wittdüner Hotelkulisse endgültig zur Ruhe kam, und zwar auf Höhe des Hotels “Vierjahreszeiten”. Dieses große, aus zunächst zwei Gebäuden zusammengebaute Gästehaus gehörte Carl Quedens, der das Gewese einige Jahre zuvor aus der Hand dänischer Spekulanten erworben hatte, die 1920 bei der Abstimmung über die Staatzugehörigkeit des Landesteiles Südschleswig mit einem Votum für Dänemark gerechnet hatten und nun, nach dem Ergebnis für den Verbleib in Deutschland ihren Besitz wieder loswerden wollten. Carl Quedens, geboren am 9. Juli 1874 als Sohn des Gründers von Wittdün, Volkert Martin Quedens, war als Nachfolger seines Vaters seit 1918 im Amte des Strandvogtes und wie dieser darauf erpicht, bei Schiffsstrandungen mit allen Mitteln die Bergung von Schiff oder Ladung zu versuchen, um – wie schon der Vater – hohe Bergelöhne zu kassieren. Er hatte in einer oberen Etage seines Hotels extra eine Stube mit Ausblick auf die Nordsee eingerichtet, damit er einen Strandungsfall immer als Erster bemerkte und ihm niemand zuvorkam! Zusammen mit seinem Vater Volkert Martin hatte Carl schon etliche dramatische Schiffsbergungen durchgeführt. Und nun lag direkt vor seiner Nase ein mächtiger Schiffskörper, kieloben!
Meisterstück einer Schiffsbergung
Carl Quedens beschloss unverzüglich, auch dieses gekenterte Schiff – ungeachtet seiner geringen technischen Möglichkeiten – zu bergen und vermerkte dies in seiner Familienchronik: “Der Motorschoner “Hermina”, groß 350 Tons, trieb im Nov. 1923, beladen mit einer Ladung Holz, gekentert auf den Hörnumer Strand an. Anfang Feb. 1924 wurde das Schiff flott und trieb zuerst auf Kniepsand S.W. vom Leuchtturm an. In der folgenden Nacht bei Sturm trieb es um den “Kapitän” (Sandbank westlich von Amrum) herum und blieb auf Wittdüner Strand gegenüber vom Hotel Victoria (neben Vierjahreszeiten) ca. 1 Km entfernt sitzen. Im Mai 1924 machte ich mit Seeschleppdampfer “Reiher”, Kapt. Hans Behnke einen Versuch, um das Schiff durch Baggern der Schraube flott zu bringen, aber ohne Erfolg. Der Schlepper Reiher erhielt für die drei Tage (des Schraubenbaggerns) 3000 Mark! Nun blieb anderes nicht übrig, als daß wir abwarten mußten bis ein orkanartiger Sturm aus S. W. kam. Wir verankerten den Schiffsrumpf mit zwei dicken, je 400 Meter langen Stahltrossen nach dem Fahrwasser (Schmaltiefe). Inzwischen eintretende kleine Stürme brachten das Schiff jedesmal einige Meter nach Osten. Im Mai 1925 bildete sich durch die Strömung unter der Backbordseite ein kleines Loch, wo man ins Schiffsinnere hineinkriechen konnte.
Ich kroch hinein und entdeckte zwischen Kiel und Flurplatten im Motorraum zwei Leichen, die nur noch aus Knochen bestanden. Dieselben habe ich herausgeholt und der Ortsbehörde übergeben zur Beerdigung. Seit dem erhielt das Schiff den Namen: Totenschiff.”
Der Kapitän der “Hermina” hieß Bantelmann und kam aus Lübeck. Die Hermina gehörte der Hamburger Reederei Hildebrand. Die gesamte Besatzung, insgesamt 11 Mann, verlor im November 1923 ihr Leben, als das Schiff im Sturm kenterte.
In seiner umfangreichen Familienchronik hat Carl Quedens dann noch einmal den Bericht über die Bergung der Hermina ergänzt, nachdem der gekenterte Rumpf geborgen war, und genauere Daten notiert. Immer wieder wurde die Verankerung ostwärts über den Kniepsand verlegt, so wie der Rumpf bei einer Sturmflut um die Länge der Ankerleine nach Osten in Richtung Fahrwasser vertrieben war. Beispielsweise wurden für den 4. November 1925 85 Meter, für den 11. Dezember wieder 70 Meter und in der Nacht zum 31. Dezember noch einmal 40 Meter gewonnen. Fast zwei Jahre lang hatte der gekenterte Schiffsrumpf als vielbestaunte und wegen der Leichen auch mit gruselnden Empfindungen betrachtete schauerliche Attraktion vor der Wittdüner Hotelkulisse gelegen.
“Am ersten Weihnachtstag 1925 trat der lang ersehnte orkanartige S. W. Sturm ein. Wir hatten ein Hochwasser von 2,50m über Normal. Das gekenterte Schiff trieb auf und hinüber in das Fahrwasser und blieb an der schweren Verankerung liegen. Die eine Stahlleine brach, während die andere festhielt. Wir ließen dort das Schiff zwei Tage liegen und brachten dasselbe dann mit einem kleinen Schlepper von der Wasserbauverwaltung in den Wittdüner Hafen (…) Wir vertäuten es an der äußersten Nordseite an der Pier am Hafen. Im Mai versuchten wir, mit Hilfe von elektrischen Winden den Schiffsrumpf umzudrehen, aber ohne Erfolg. Im Juni kam dann der Taucher Beckedorf von Steinwerder – Hamburg und kaufte mir den gekenterten Rumpf für 7000 Mark ab. Beckedorf ließ den Rumpf von zwei Schleppern nach Steinwärder transportieren.
In Steinwärder hat B. das Schiff mit Hilfe von zwei großen Hebekränen gekentert (umgedreht) und gelöscht. Das Schiff ist in Wesermünde wieder gründlich repariert worden und fährt deshalben jetzt wieder als Dreimastschoner unter dem Namen: “Niedersachsen”.
Soweit der Bericht des Strandvogtes Carl Quedens (zusätzliche Erläuterungen in Klammern von G. Q.). Der Dreimastschoner hat in den folgenden Jahren noch einige Male den Besitzer bzw. Reeder gewechselt und ist noch bis 1974 (!), zuletzt unter dem Namen “Hedwig Pannbacker” gefahren.
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