Wir haben in der bisherigen Übersicht über die Amrumer Säugetierfauna zur Kenntnis genommen, dass eine Insel so weitab vom Festland nur eine beschränkte Artenvielfalt aufweist und etliche wesentliche “Allerweltstiere” fehlen. Dafür hat eine Insel im Meer aber einigen Arten aufzuweisen, die naturgemäß auf dem Festlande fehlen: Robben. Und hier meldet Amrum – neben einigen Irrgästen aus dem Nordatlantik/Eismeer zwei Arten, die seit jeher zur Inselfauna gehören: Seehunde und Kegelrobben. Beide Arten sind durch Ausgrabungsfunde in der frühmittelalterlichen Burg bei Borgsum auf Föhr belegt, wobei die Knochen der Kegelrobbe eigenartigerweise zahlreicher als jene des Seehundes waren und sich die Frage stellt, ob die eine Art tatsächlich häufiger vorkam oder bei der Jagd bevorzugt wurde.
Die Seesände (Jungnamen, Knobsände, Theeknob) nordwestlich von Amrum sind heute wie vor tausend Jahren fast ganzjährig Heimat von Seehunden und Kegelrobben, zu manchen Zeiten belagert von etlichen hundert Tieren, die die Frage aufwerfen, welche Fische und Fischmengen die Natur diesen Robbenscharen täglich zur Verfügung stellt.
Auf Amrum selbst kann man Seehunde am ehesten auf dem Kniepsandzipfel und am Hafenpriel rund um die Südspitze Wittdün und auf der “Kiesfläche” der äußersten Nordspitze entdecken, aber immer wieder auch vereinzelt am Kniepsandstrand, wo sie zum Ruhen an Land gehen und durch Wanderer aufgeschreckt panikartig in die Nordsee flüchten. Im Sommer 2023 hielten sich auch einige jüngere Seehunde relativ zutraulich im Seezeichenhafen auf, vermutlich aus einer Heulerstation in die Freiheit entlassen. Im übrigen werden im Sommer auch öfter vom Kniepsand “Heuler” gemeldet, junge, erst wenige Tage alte Seehunde, die nach der Mutter rufen. In Ruhe gelassen, werden die meisten Heuler dann später von der Mutter gefunden und abgeholt. Andernfalls werden diese Jungtiere zur Aufzuchtstation Friedrichskoog gebracht.
Seehunde haben im Leben der Insulaner früher eine gewisse Rolle gespielt. Als Fischfresser galten sie als “schädlich” und wurden rücksichtslos bejagt. Aber auch als Beute selbst waren sie begehrt. Das Fell wurde für mancherlei Zwecke gegerbt und verwertet, aus der Speckschicht wurde Tran ausgekocht, der als Brennstoff in den altertümlichen Beleuchtungskörpern, den sog. “Kwiaken” diente. Als Nahrung, als Wildbret, hatten Seehunde geringere Bedeutung. Nur die Leber galt im alten Amrum als genießbar.
Eine besondere Wertschätzung erhielten die Seehunde allerdings nach Gründung der Seebäder, dem Bau nobler Hotels und dem Besuch betuchter Herrschaften. Damals rühmte man sich mit dem Erlegen von Seehunden, und überall boten sich einheimische Schiffer an, mit Jagdgästen zu den Seehundsbänken zu segeln und die Herrschaften zur Jagd zu führen. Besonders großzügige Honorare zahlten die hohen Herren bei einer erfolgreichen Jagd, und deshalb hatten die bauernschlauen Amrumer Seehundsjagdführer gelegentlich auch einen schon vorher selbst erlegten Seehund an Bord, für den Fall, dass der Gast das Tier mit dem Schuss verfehlte. “Aber gut abgekommen und getroffen”, hieß es dann an Bord, und “die Nachsuche wird bestimmt erfolgreich sein”. Tatsächlich wurde dem Jagdgast dann am nächsten Tag ein erlegter Seehund gebracht, und der listige Schiffer kassierte sein Honorar. Philipp Schau, Gustav und Friedrich Jannen, Gerret Peters waren die bekanntesten Jagdführer im Kaiserreich bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges.
In den 1920er Jahren wurde diese Art der “Schädlingsbekämpfung” noch weiter betrieben, bis der Seehund an der deutschen Nordseeküste schließlich vor der Ausrottung stand.
Dann aber gab es Mitte der 1930er Jahre eine Wendung. Im Deutschen Reich hatten die Nationalsozialisten die Macht ergriffen und den Naturschutz und die Wildhege auf ihre Fahne geschrieben. 1934/35 wurden das “Reichsjagdgesetz” und das “Reichsnaturschutzgesetz” erlassen und machten der bisherigen freizügigen Nutzung der Natur ein Ende. Auf Sylt und Amrum wurde der Massenfang in den Vogelkojen mit derartigen Beschränkungen belastet, dass auf beiden Inseln der Entenfang bald aufgegeben wurde (nur die Föhrer Vogelkojen retteten ihre Privilegien durch die Zeit). Auf Amrum wurde die Nordspitze Odde als Vogelschutzgebiet ausgewiesen und damit ein Kontra gegen das jahrhundertelange rücksichtslose Sammeln von Seevogeleiern gesetzt. Alle Gemeindegebiete wurden als Jagdreviere ausgewiesen und an Jagdpächter verpachtet, die die Jägerprüfung mit entsprechenden Kenntnissen über Jagd und Naturschutz absolviert hatten. Das Eiersammeln, nur noch auf Möwen beschränkt, wurde über Erlaubnisscheine der Jagdpächter reguliert, auf Amrum ebenso die Jagd auf Wildkaninchen, deren Status von “Schädlingen” zu Jagdwild geändert wurde. Auch der Seehund wurde zu Jagdwild erklärt, und das bisherige hemmungslose Abschießen in einer Verordnung über Jagd- und Schonzeiten beschränkt, und und und! Es war schon erstaunlich, wie ein Regime, das sehr bald auf furchtbarste Weise mit Menschenrechten umging, vorbildliche, noch heute gültige Jagd- und Naturschutzgesetze verordnete.
Im Laufe des 2. Weltkrieges erlebten die Seehunde eine fast fünfjährige völlige Jagdruhe, denn wegen der britischen Tieffliegerangriffe konnten sich keine Boote zur Seehundsjagd zu den Seesänden bei Amrum und andernorts wagen. Aber nach Kriegsende waren die Seehunde im Seebereich von Amrum keineswegs zahlreich. Als die Norddorfer Schulklassen im Juni 1947/48 mit dem Ausflugsschiff “Graf Luckner”, Kapitän Boyens zur Hallig Hooge fuhren, lagen auf dem großen Jungnamensand nur sechs Seehunde. Es hieß, dass Soldaten der britischen Besatzungsmacht, in Hörnum stationiert, sich ein fast tägliches Vergnügen daraus machten, der Seehundsjagd nachzugehen. Erst mit dem Ende der Besatzung im Jahre 1950 und der wiedererlangten Jagdhoheit der Bundesrepublik erhielten die Jagdgesetze wieder ihre alte Ordnung.
Aber der wirtschaftliche Aufschwung der Bundesrepublik, vor allem aber auch die Industrialisierung der DDR und der Tschechoslowakei, verbunden mit einer heute nicht mehr vorstellbaren “sozialistischen” Umweltignoranz, führten dann über die Abwässer in Elbe und Weser, aber auch über die westdeutschen Flüsse Ems und Rhein zu einer unerträglichen Schadstoffbelastung in der küstennahen Nordsee, was sich bei den Seehunden an der südlichen Nordseeküste in Form von handtellergroßen Geschwüren und fehlendem Nachwuchs auswirkte. In Westdeutschland entwickelte sich eine wachsende Umweltdiskussion mit der Parole “Erst stirbt der Seehund, dann der Mensch”, wobei sich der Protest allerdings gegen die westliche Wirtschaft richtete und die eigentlichen Verursacher der Nordseeverschmutzung über Elbe und Weser, die Industrien im sozialistischen Ostblock, geflissentlich verschwiegen wurden. Aber merkwürdig genug: Ungeachtet der Umweltbelastungen der Nordsee wuchs die Zahl der Seehunde, so dass in den 1970/80er Jahren auf den Seesänden bei Amrum über Tausend Exemplare gezählt wurden und die Küstenfischerei entsprechende Einbußen vermeldete.
Aber dann brach im Sommer 1988 ein Ereignis über die Nordseeküste herein, das weltweite Schlagzeilen und Aufregung verursachte – ein unfassbares Sterben zehntausender Seehunde. Auf Amrum trieben wöchentlich von Juni bis September Hunderte sterbender und toter Seehunde an und wurden zum Sezieren von den hiesigen Mitarbeitern des Amtes für Land- und Wasserwirtschaft zum Festland gesandt. Dort watete der Sezierer sozusagen in Tran und Blut und war für die bundesdeutschen Medien der Kronzeuge für den Nachweis, dass die Nordsee sich in einen Quecksilbersee verwandelt hatte und die toten Seehunde als “Sondermüll” beseitigt werden müssten. Der ganz überwiegend ideologisch motivierte Naturschutz schwang seine Totschlagkeule über die Nordsee und erzeugte Angst unter den Kurgästen vor dem Baden im Meer. Nur das anhaltend schöne Sommerwetter verhinderte, dass es zu einem Zusammenbruch des Fremdenverkehrs kam. Vergeblich blieben alle Mühen von Naturkennern auf Amrum, darauf hinzuweisen, dass das tausendfache Sterben der Seehunde nicht durch eine Vergiftung der Nordsee verursacht worden sein konnte, da die im gleichen Lebensraum ansässigen Kegelrobben gesund blieben – sondern vermutlich durch eine n a t ü r l i c h e, durch Viren ausgelöste Seuche, deren Dramatik durch den überhohen Bestand der Seehunde noch verstärkt wurde. Das Virus (Phocine Distemper) war auf der dänischen Insel Anholt im Kattegat ausgebrochen und dann um Skagen herum die dänisch-deutsche Nordseeküste heruntergewandert.
In der bundesdeutschen Medienlandschaft und bei den Panikpropheten des Nordseeuntergangs wurde es still, als sich die Theorie nichtstudierter Insulaner bestätigte. Einige tausend Seehunde hatten die Seuche überlebt, waren nunmehr immun und vermehrten sich in den nachfolgenden Jahren wieder mit naturgerechten Raten. Um die Jahrtausendwende, im Jahre 2001, wurden auf den Seesänden bei Amrum etwa 1300 Exemplare gezählt, so dass sowohl Fischer als auch Jäger die Notwendigkeit einer kontrollierten Bejagung zu diskutieren begannen, um Erscheinungen wie in 1988 mit dem qualvollen Sterben der Seehunde zu verhindern oder wenigstens zu minimieren. Die Seehunde an der deutschen Nordseeküste werden seit 1951 durch die Naturschutzbehörden per Flugzeug kontrolliert, so dass der Nachwuchs ziemlich genau registriert wird. Aber der Seehund hatte als Umweltsymbol einen derartig hohen Rang, dass alle Vorschläge, die seit 1973 ruhende Jagd als Hegemaßnahme wieder einzuführen, abgelehnt wurden.
Im Sommer 2002 war es dann wieder soweit. Wie schon 1988 brach auf der dänischen Insel Anholt erneut die Seuche aus, blieb aber zunächst lokal begrenzt und bestätigte die schon 1988 getroffene Vermutung, dass über die Abwässer der an der dänischen Ostseeküste verbreiteten Nerzfarmen, wo die Tiere u. a. auch mit dem Fleisch arktischer Robben gefüttert wurden, die zugehörigen Viren verbreitet wurden. Doch Anfang August 2002 erreicht die Seuche auch unser Küstengebiet, und allein auf Amrum wurden von dem zuständigen Seehundsheger Kai Dethlefsen rund 400 tote bzw. sterbende Tiere geborgen. Aber die Überlebensrate immuner Seehunde war wesentlich höher als bei der Seuche 1988, und in den folgenden Jahrzehnten bis dato hat sich der Bestand wieder stabilisiert.
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