Geht man in Nebel schräg gegenüber dem Edeka-Kaufmann den Krümwai durch die Häuserfront Richtung Watt gelangt man zu einem Pfahl an dem die Hochwasser-Pegelstände bedeutender Sturmfluten angezeigt werden.
Blickt man an dieser Stelle an einem schönen Sommertag über die Landschaft oder in Richtung Ortsmitte und St. Clemens-Kirche, mag man es gar nicht glauben, dass es immer wieder Sturmfluten gegeben hat, die an dieser Stelle alles unter Wasser gesetzt haben.

Angegeben werden die stattgefundenen Fluthöhen in Meter über dem Mittleren Hochwasser („m über MHW“). Das MHW ist ein Maß für den Wasserstand des Meeresspiegels an Küstenlinien. Es ist eine statistische Größe und bezeichnet einen langjährigen Mittelwert des Hochwassers.
Die Stelle, an dem der Pfahl aufgestellt worden ist, liegt 1 Meter über Normalnull („NN“), die St.-Clemens-Kirche ca. 4 m über NN. NN wird umgangssprachlich als Höhenangabe für „über dem Meeresspiegel“ benutzt und galt bis Anfang der 1990er Jahre als Maßstab für eine Höhenangabe eines Ortes. Korrekterweise spricht man heute, seit der Zusammenfügung der Höhennetze der alten und der neuen Bundesländer, besser von Normalhöhennull („NHN“) das seit 1993 das NN ersetzt. Bei der Höhenfeststellung von Hochwasserständen werden „über NN“ und „über MHW“ oft synonym verwendet.
Eine „Sturmflut“ bezeichnet Wasserstände zwischen 1,5 m und 2,5 m über MHW, zwischen 2,5 m und 3,5 m spricht man von einer „schweren Sturmflut“, über 3,5 m liegt eine „sehr schwere Sturmflut“ vor.

Stellt man sich vor, wie es rund um den Pfahl zu den angegeben Zeiten ausgesehen haben mag, wird sich der eine oder andere vielleicht an Theodor Storms „Schimmelreiter“ oder an die Sage der untergegangenen Stadt „Rungholt“ erinnern. –Mystisch. Um es kurz bildlich darzustellen: Hätte sich ein deutscher Mann mit einer statistischen Durchschnittsgröße von 179 cm bei der letzten schweren Sturmflut am 26. Januar 1990 (2,57 m über MHW) an den Pfahl (1,00 m über NN) gestellt, hätte wohl gerade noch sein Kopf aus dem Wasser geragt.

Trift eine Sturmflut z. B. auf die deutsche Nordseeküste, sind die Hochwasserstände nicht überall gleich hoch. Örtliche Begebenheiten, unterschiedliche Strömungen, bestimmte lokale Wetterverhältnisse sowie die Gezeiten beeinflussen die Fluten. So wurde bei der Flutkatastrohe im Februar 1962 in Hamburg eine Fluthöhe von bis zu 5,70 m über MHW gemessen, auf Amrum dagegen „nur“ 3,05 m.

Der Wechsel der Gezeiten Ebbe und Flut ist ein faszinierendes Schauspiel, das durchaus auch mystische Züge trägt. Die Anziehungskraft von Mond und Erde sowie die Fliehkraft der Erde bewegen das Meerwasser, wobei auf der mondnahen Seite der Erde die Anziehungskraft des Mondes stärker als die Fliehkraft der Erde ist. Dadurch wird hier das Meerwasser zum Mond hingezogen, es entsteht die Flut. Umgekehrt ist auf der vom Mond abgekehrten Seite die Fliehkraft der Erde größer als die Anziehungskraft der Erde, hier herrscht Ebbe. Spannend wird es, wenn Sonne, Mond und Erde in einer Linie stehen, denn dann addieren sich die Anziehungskräfte und es resultieren besonders hohen Fluten („Springflut“, „Springtide“). Kommt dann noch ein Sturmgeschehen in Richtung der Wasserströmungen hinzu, entsteht leicht eine Sturm- oder sogar Orkanflut. Anders verhält es sich, wenn Sonne, Mond und Erde in einem rechten Winkel zueinander stehen, dann wirken die Anziehungskräfte in unterschiedliche Richtungen und die Flut fällt deutlich geringer aus („Nippflut“, „Nipptide“).

Erst seit dem 19. Jahrhundert liegen zuverlässige Aufzeichnungen über Wasserstände vor. Zuvor sind Naturkatastrophen zwar mehrfach in der Literatur beschrieben worden, deren Auswirkungen v. a. in Hinblick auf Opferzahlen beruhen jedoch weitgehend auf groben Schätzungen oder sogar Phantasien. Dennoch gibt es eine Liste von Sturmfluten an der Nordseeküste in der beispielsweise für das Jahr 516 n. Chr. eine Sturmflut angegeben wird. Bei dieser sei ganz Friesland betroffen gewesen, angeblich kamen über 6000 Menschen und noch viel mehr Vieh ums Leben. Im Februar 1216 sollen in den Bereichen Dithmarschen, Eiderstedt, Nordstrand und Helgoland etwa 10.000 Menschen ertrunken sein. Bei der „Erste Grote Mandränke“ (zweite Marcellusflut) sind in der Zeit vom 15. – 17. Januar 1362 die nordfriesischen Uthlande untergegangen, die Halligen sind entstanden und Rungholt ist versunken. Viele weitere Sturmfluten folgten, so z.B. die Allerheiligenflut von 1532 bei der mehrere tausend Tote in Nordfriesland zu beklagen waren, oder die „Zweite Grote Mandränke“ (Burchardiflut) am 11. Oktober 1634, bei der die Insel „Strand“ in mehrere Teile zertrennt wurde. Im Februar 1825 hat die „Halligflut“ 800 Tote gefordert und zum Untergang vieler Halligen geführt.

An dem Nebeler Hochwassermarkierungspfahl sind 8 schwere Sturmfluten zwischen 1825 und 1990 verzeichnet. Mit verzeichneten 3,10 m über MHW wird an die „Novemberflut 1825“ erinnert. Amrum scheint hier noch recht glimpflich davon gekommen zu sein, in Ribe in Dänemark wurden Werte von 5,33 m über MHW gemessen! Bemerkenswert sind auch die Angaben von der Novemberflut am 24.11.1981. Auf Amrum wurden 2,91 m ü MHW gemessen, in Dagebüll 4,72 m über MHW. Und auch mit den Fluten im Januar und Februar 1990, den letzten hier markierten Daten, hat Amrum offensichtlich nur wenig Schaden genommen. Die Ereignisse in dieser Zeit gelten für den Bereich der Deutschen Bucht als die bislang intensivste bekannte unmittelbare Serie schwerer Fluten.
Weitere nach 1990 nicht auf dem Pfahl angegebene Stürme und Orkane dürften so manchem Betrachter dennoch in Erinnerung geblieben sein: 3.12.1999 Orkan Anatol, 1.11.2006 Allerheiligenflut (höchste je gemessenen Pegelwerte im Bereich der ostfriesischen Inseln), 9.11.2007 Orkan Tilo, 5. – 6. 12 2013 Orkan Xaver, 9. – 10. 2020 Orkan Sabine, 17. und 18.2.2022 Stürme Ylenia und Zeynep.
Sturmfluten hat es schon immer gegeben und in Zeiten des Klimawechsels wird auch weiter mit schweren und sehr schweren Sturmfluten gerechnet. Und das sind Tatsachen die leider gar nichts mit Mystik zu tun haben. Flutschutzmaßnahmen sind nicht nur nach der verheerenden Flut im Februar 1962 immer weiter vorangetrieben worden, sie sind aktueller denn je.
Vielen Dank auch für diesen Beitrag. Ich lese die Reihe mystische Orte sehr gerne. Da gibt es immer etwas zu entdecken. Auch dieser Beitrag ist toll, in den sich aber ein Fehler eingeschlichen hat: Es ist ja zweimal am Tag Flut, und daher ist auch “an der vom Mond abgekehrten Seite Flut”. Ich versuche das vereinfacht in weniger als 300 Worten kurz zu erklären: Der Mond kreist ja nicht um die Erde, sondern Mond und Erde um einen gemeinsamen Drehpunkt, der aber in der Erde liegt, natürlich auf der Seite zum Mond hin. Auf diesen Punkt sollte sich die im Artikel genannte Fliehkraft beziehen. Diese ist zur dem Mond zugewandten Seite schwächer, aber es kommt hier die Anziehungskraft des Mondes hinzu. Die resultierende Kraft ist der Grund für die Flut zum Mond hin. Auf der dem Mond abgewandten Seite ist die Fliehkraft größer als auf der dem Mond zugewandten Seite, weil hier der Abstand zum gemeinsamen Drehpunkt größer ist. Diese größere Fliehkraft wird aber durch die Anziehungskraft des Mondes wieder geschwächt. Die resultierende Kraft ist hier aber ähnlich groß wie auf der dem Mond zugewandten Seite. Daher gibt es auf beiden Seiten Flut. Verkürzt ausgedrückt wirkt auf der dem Mond zugewandten Seite eine schwache Fliehkraft + Mondanziehungskraft, auf der dem Mond abgewandten Seite eine starke Fliehkraft – Mondanziehungskraft. Wie gesagt ist auch das eine vereinfachte Erklärung, denn keine der beiden resultierenden Kräfte kann das Wasser anheben, dafür ist die Erdanziehungskraft als Gegenkraft viel zu stark. Die Effekte spielen sich quasi “am Rand” ab, dort, wo die genannten resultierenden Kräfte quer zur Erdanziehungskraft stehen. Ich hoffe, das war nicht zu kompliziert. Nochmals vielen Dank, Ingo Schöling
Herrn Dr. Totzauer einen sehr herzlichen Dank für seine Reihe „mystische Orte“. Wir erfahren Neues oder erleben Altbekanntes neu. Wie oft sind wir schon an den Türchen (mystische Orte Nr. 11) vorbei gefahren, ohne zu wissen, dass das die Eingänge der onerbäänkin in die Unterwelt sind. Unterhaltsam oder selbstverständlich ernsthaft und immer gewissenhaft recherchiert, vermittelt Dr. Totzauer geschichtliche Zusammenhänge und Hintergrundinformationen mit Bildern zum jeweiligen Thema, so auch zum letzten Beitrag über den Hochwassermarkierungspfahl.
Das Thema „Ebbe und Flut“ ist keineswegs spezifisch für Amrum, es ist ein weltweites Phänomen. Aber es betrifft Amrum ja in einem ganz besonders hohen Maß, wie der Artikel ganz deutlich macht. Jedoch ist es ganz schwer zu verstehen, aber trotzdem lebendig zu erleben. Für Mondanziehungskräfte und Erdfliehkräfte fehlt uns die Erfahrung völlig und so kann es schon passieren, dass der Versuch, diesen Sachverhalt „ in weniger als 300 Worten kurz zu erklären“, wie im vorhergehenden Kommentar auch ziemlich fehlerhaft bleibt.
Ich möchte der Redaktion den Vorschlag machen, diesem für Amrum so überaus wichtigen Thema auch eine kleine Serie über „Ebbe und Flut“ zu widmen, mit Erlebnissen und Beobachtungen, oder Erklärungen und Hinweisen von Amrumer Fachleuten. So konnte ich deshalb vor zwei Jahren bei der Wanderung zur Kormoraninsel kurz vor Foehr zum ersten mal die herannahende Flutwelle erleben, weil der Wattführer als Fachmann gut Bescheid wusste.
Walter Axmann