Immer wenn an der B 199 zwischen Flensburg und Leck das Hinweisschild „Fresenhagen“ auftaucht, muss ich an den viel zu früh verstorbenen Musiker Rio Reiser, Frontmann der Westberliner Polit-Rock-Band „Ton, Steine, Scherben“ und „König von Deutschland“ denken. Die „Scherben“ („Macht kaputt, was Euch kaputt macht“, „Keine Macht für niemand“, „Der Traum ist aus“, „Rauch-Haus-Song“ u.v.a.) hatten 1975 in Nordfriesland ihren kreativen Rückzugsort gefunden.
Genau den entgegengesetzten Weg schlägt die 1964 auf Sylt geborene Journalistin Susanne Matthiessen ein und zieht in den 1980er Jahren nach Berlin.
Nach „Ozelot und Friesennerz“ und „Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen“ legt sie mit „lass uns nochmal los“ nun ihren dritten Roman vor. Und auch der spielt auf einer sich wandelnden Insel, jedoch nicht von Nordseewellen umgeben, sondern damals von der DDR.
„Wer seine Eltern in Westdeutschland … mal so richtig durchschocken wollte, zog nach Berlin“, schreibt Matthiessen und lässt ihre Ich-Erzählerin Susanne als journalistische Debütantin ausgerechnet am Vorabend des 1. Mai 1987 über die Transitstrecke in der geteilten Stadt ankommen. Sie soll einen Radio-Beitrag über die Hundeschau im Kongresszentrum erstellen.
Unvorhergesehen gerät die abenteuerlustige junge Frau aus der norddeutschen Provinz in die gewalttätigen politischen Unruhen im Stadtteil Kreuzberg 36, die in dieser Nacht apokalyptische Ausmaße annehmen. Sie wird verletzt. Feministische Stadtteilaktivistinnen bringen die Unbekannte in der BURG in Sicherheit, einem rein von Frauen besetzten, hierarchiefreien Haus in Kreuzberg. Allen anarchischen Umständen zum Trotz liefert Susanne per Telefon einen amüsanten Hörfunktext über den Hunderassenwettbewerb ab, entscheidet sich dann aber kurzerhand gegen den braven Job beim NDR und bleibt in Berlin, um ihr Glück zu suchen.
Sie wird ein anderes Leben führen als von ihr erwartet: “Wir haben uns einfach genommen, was uns zustand, die Hälfte der Welt. Wir sind durchgestartet für mehr Geld, Macht und Einfluss und wollten ein unabhängiges Leben nach unserem Geschmack. Es sollte die ganz große, unangepasste Freiheit werden. Zusammen wohnen, zusammen leben, zusammen feiern. Und jetzt sind wir sogar zusammen alt geworden und fragen uns: Hat denn alles geklappt?“
An ihrer Mutter sei ein großer Teil ihres Lebens vorbeigezogen, sagt die Ich-Erzählerin. „Keine Enkelkinder, kein Schwiegersohn, keine Doppelhaushälfte…“ Was nicht tatkräftig von Männern umgesetzt würde, existiere für ihre Mutter nicht, bliebe ohne Bedeutung und ohne Wert. Ein Wohnhaus nur für Frauen sei ihr suspekt. Nur mit ihrem guten Pressejob in einem Ministerium konnte Susanne punkten, doch den wird die Protagonistin mit Mitte Fünfzig verlieren. Wie ihre Mitstreiterinnen – inzwischen Wohnungseigentümerinnen der BURG – ist Susanne mit dem sozialen Abstieg konfrontiert. Kreuzberg ist über 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch ein Anziehungspunkt, aber die große Freiheit kann sich inzwischen kaum jemand mehr leisten. Die gemeinsam gealterten Freundinnen müssen in einem veränderten Umfeld zur Tat schreiten, im wahrsten Sinn des Wortes vom Grund auf, unkonventionell, aber gemeinsam!
„In Kreuzberg lebt jede und jeder für sich mit ganz eigenen Vorstellungen und trotzdem zusammen… Man muss nicht einmal dieselbe Sprache sprechen.“ Der Begriff ‚Kreuzberger Mischung‘ habe sich bis heute erhalten – inzwischen sogar als Kaffeesorte – und sei immer noch berechtigt, reflektiert Susanne schon im ersten Kapitel des Romans. „Unzählige Minderheiten bilden die Mehrheit. In einer solchen Mischung stellt sich nie die Machtfrage…, eine Mehrheitsmeinung gibt es nicht. Die Menschen sind daran gewöhnt, nicht regiert zu werden, sondern das für sich selbst zu erledigen… Die Kreuzberger Mischung besteht aus unzähligen Lebenswelten mit eigenen Moralvorstellungen und eigenen Gesetzen, in die man – obwohl es oft direkte Nachbarn sind – keinen Einblick hat.
Wohl deshalb muss sich diese Insel um stetigen Nachschub bis heute keine Sorgen machen… Wer kein Leben von der Stange will, setzt sich immer noch in Bewegung. Ganz Berlin wurde von diesem Sog erfasst.… Aber inzwischen ist es einfach unheimlich voll geworden. Zu voll. Die Selbstverwirklichung drängt sich auf dichtestem Raum.“
Die gebürtige Sylterin Susanne Matthiessen hat sich in Kreuzberg auf Anhieb wohlgefühlt, heißt es im Klappentext über die Autorin, – verhaltensauffällige Charaktere auf unbegrenztem Platz kannte sie schließlich schon von zuhause.
Kommt mir irgendwie bekannt vor… so wie viele andere persönliche Erfahrungen engagierter Frauen der Boomer-Generation, die Susanne Matthiessen mit Leichtigkeit und Selbstironie in den Roman einfließen lässt, der so wunderbar komisch und zeitkritisch erzählt ist, dass ich ihr Buch wie Butter verschlungen habe.
Susanne Matthiessen: lass uns nochmal los. Roman. 336 Seiten. Hardcover 23,99 Euro. Ullstein Verlag. ISBN 9783550202674 (Die Taschenbuchausgabe für 14,99 Euro erscheint am 31.07.2025.)