Im neuen blauen Wörterbuch steht: „fröölag weinachten!“ So weit, so klar. Was aber ist hier auf Amrum mit der Vokabel „jul“ passiert, die überall sonst in den nordischen und skandinavischen Sprachen verwendet wird? Sogar auf unserer Nachbarinsel Föhr heißt es „fröölagen jul“. Das Föhrer Friesisch gleicht unserem Öömrang bis auf wenige Feinheiten. Dort hat das Wort jul überdauert, bei uns wird es nur noch als „veraltet“ aufgeführt.
„Ja, det as al nüürag. An uk spiitag“, sagt mein Onkel Reinhard Jannen. „Ja, das ist schon seltsam und auch schade.“ Auf Amrum sei jul ungefähr um 1900 verschwunden und durch das deutsche „Weihnachten“ ersetzt worden. Reinhards Vermutung: In den 1890er Jahren wurden in Norddorf die Hospize erbaut, Wittdün entstand, der Tourismus kam in Gang, und der Pietismus hatte großen Zulauf – eine besonders frömmlerische, christliche Bewegung. In diesem Zuge ist viel Öömrang dem Deutschen gewichen. Auch einige christliche Feiertage sind mit deutschen Vokabeln versehen worden, und so ist es wohl kein Zufall, dass vor 120 Jahren auf Amrum jul zu weinachten wurde.
Trotzdem hat das Wort auch im Öömrang überlebt. Hier und da taucht es auf, wohlklingend und die ganze Tiefe der nordischen Mythologie in sich tragend. Einzelne Amrumer Familien haben nie aufgehört, jul zu sagen; andere führen es allmählich wieder ein.
Öömrang ist meine Vatersprache. Aus meiner Kindheit kann ich mich an das Wort jul überhaupt nicht erinnern. Als ich meinen Vater frage, bestätigt er: Auch er sei mit dem Wort weinachten aufgewachsen und habe seit einer Weile zunehmend jul gehört. „Jüst faan soken, wat det besonders gud an rocht maage wel. So hü dü.“ („Vor allem von solchen, die es besonders gut und richtig machen wollen. So wie du.“)
Tatsächlich kommt mir „En fröölagen jul“ nicht ganz so selbstverständlich über die Lippen. Es wirkt noch etwas bemüht. Aber ich verteidige mich: „Für unsere Kinder ist jul bald normal“.
Schon gut. Und den Ansatz, alte friesische Wörter wiederzuentdecken oder zu erhalten, findet auch mein Vater wichtig. Bevor er sich von mir, seiner streberhaften Tochter, verabschiedet, verkündet er: „Ik keer nus.“ Er guckt mich vielsagend an. Ob ich das schon mal gehört habe? Ich verneine. Er erklärt: Es heißt, er fahre jetzt nach Norddorf. Die umgekehrte Richtung lautet: „Ik keer süder“ – also von Norddorf aus Richtung Süden.
Mein Vater fährt „nus“ (ausgesprochen wie „Nuss“), ich sitze an meinem Wittdüner Schreibtisch, blicke auf das himmlische blaue Wörterbuch und wünsche En fröölagen jul an seegend nei juar!