Amrum ist seit einigen Jahren die Insel der Wildgänse. Diese bevölkern mit jeweils 2000 bis 3000 Ringel- und Nonnengänsen vom Frühherbst bis zum Beginn des Sommers die Insel und äsen als reine Vegetarier auf den relativ kleinen Flächen der Salzwiesen, nämlich auf “Eer” zwischen Asphaltdeich und Nordspitze, im Annland und auf der Niederung im nördlichen Nebel. Weil aber diese Flächen die Mengen der Wildgänse nicht mehr ausreichend ernähren, finden diese sich vor allem auf den landwirtschaftlich genutzten Weide- und Getreidefeldern der hohen Inselgeest und in den Marschen bei Wittdün/Steenodde und Norddorf ein. Früher kamen hier die beiden genannten Arten, die eigentlich S a l z w a s s e r gänse sind, auf Süßwasservegetation kaum vor. Aber weil große Flächen von Salzwiesen an nordfriesischen Insel- und Festlandsküsten nach der Einrichtung des Nationalparks Wattenmeer (1985) aus der intensiven und extensiven Beweidung und Mahd getreu der Parole “Natur Natur sein lassen” herausgenommen wurden und die Natur die früheren Salzwiesen unter der halbmeter hohen Vegetation der invasiven Salzquecke und des Schlickgrases verschwinden ließ, verloren die Wildgänse (alle Arten) in Quadratkilometer großem Umfang ihre traditionellen Weidegründe. Denn Wildgänse können nur relativ kurze Vegetation äsen.
Zu den beiden “Salzwasser”gänsearten kommen noch die Graugänse, die ungeachtet der Regulierungs- bzw. Reduzierungsmaßnahmen (Absammeln der Gelege) überall auf der Insel mit hohen Nachwuchsraten das Bild der insularen Vogelwelt dominieren.
Unvermeidlich wirkt sich die Menge der Wildgänse auch auf den Zustand der Landschaft bzw. Landwirtschaft aus. Tagenzeitungen und Fernsehen melden, dass auf der nordfriesischen Halbinsel Eiderstedt etliche Bauern ihren Weidebetrieb aufgegeben haben. Und auch auf Amrum spricht beispielsweise das Bild der Norddorfer Marsch Bände. Wo früher ab Anfang Mai Hunderte Rinder die Wiesen bevölkerten, waren in diesem Jahr alle Fennen leer. Die Wildgänse sind zu ihren Brutplätzen im Eismeer entschwunden. Aber auf allen Wiesen liegen dicht an dicht die Kothaufen der Gänse, so dass eine Viehhaltung bis zu deren Auflösung kaum möglich ist – ungeachtet der Tatsache, dass ausreichende Regenmengen für einen guten Graswuchs gesorgt haben.
Wildgänse – ein menschenähnliches Eheleben
Alle Wildgansarten führen ein Eheleben, das in weiten Bereichen jenem des Menschen entspricht – hat der bekannte Tierpsychologe und Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903 – 1989) herausgefunden. Wildgänse werden mit dem zweiten Lebensjahr geschlechtsreif und denken nun an eine eigene Familie. Dabei beginnt die Werbung des Ganters um eine Gans zunächst aus einer gewissen Distanz, und dann folgte eine “Verlobungszeit” mit Verpaarung, wie üblich auf dem Wasser, aber ohne Eiablage und Brut. Fast ein Jahr ist ein Gänsepaar “verlobt”, ehe eine erste Brut erfolgt. Der Ganter beteiligt sich nicht am Ausbrüten der Eier, ist aber immer wieder am Brutplatz in Nestnähe zu finden, wo er eine Art “Wächteramt” ausübt. Die geschlüpften Jungen (Gössel) werden dann gemeinsam zum Wasser geführt, die Gans voran, der Ganter hinterdrein. Schon diese Art der Betreuung ist eine der Ursachen für den hohen Bruterfolg fast aller Gänsearten. Denn nur selten gelingt es Möwen oder Krähen, Junge zu rauben. Eine Gans legt 4 – 6 Eier, und der Nachwuchs erreicht auch fast vollzählig das Erwachsenenstadium mit dem Flüggewerden (eine Fasanenhenne legt bis zu 15 Eier, aber nur einige wenige Küken erreichen das Erwachsenenalter). Die jungen Gänse sind auch außerordentlich begünstigt. Sie vertragen intensives Regenwetter und geraten als Grasfresser kaum in Nahrungsnot, während die Jungen vieler anderer Vögel bei Regen ums Leben kommen oder verhungern, weil es an Insekten fehlt.
Nach der Mauser, etwa ab Mitte Juli, wenn die Elternvögel mit neuen Schwungfedern ihre Flugfähigkeit wieder erlangen und die Jungen gleichzeitig flügge geworden sind, machen sich die nordischen Wildgänse auf den Weg nach Süden, während die einheimischen Graugänse in Nordeuropa umherziehen, ehe sie Anfang des Jahres wieder ihre Brutplätze besetzen. Die längst erwachsenen Jungen bleiben aber noch lange in Obhut der Eltern, ehe sie vor Beginn der nächsten Brut entlassen werden.
Wenn anfangs auf das “menschliche” Eheleben der Gänse verwiesen wurde, so gibt es doch einen gravierenden Unterschied: die Scheidungsrate ist bei den Gänsen sehr viel geringer als beim Menschen. Einmal “verheiratet”, bleiben Gänsen lebenslang zusammen und sind als “Witwe” oder “Witwer” sichtlich tief betroffen, wenn sie ihren Partner durch Unfall oder Jagd verlieren. Etliche bleiben dann auch für den Rest ihres Lebens “ledig”.
Getreue Totenwache
Ein rührendes Beispiel aus dem Zusammenleben von Wildgänsen konnte in der Zeit von etwa 20. bis 29. April dieses Jahres in der Norddorfer Marsch beobachtet werden. Wie in den vorherigen Jahren hatten sich im Herbst wieder einige Tausend Nonnen-, auch Weißwangengänse genannt, zum Winterquartier auf Amrum eingefunden. Von der auf dem Festland grassierenden Vogelgrippe blieben die Wildgänse – zu den Nonnengänsen waren noch einige Tausend Ringelgänse und die einheimischen Graugänse gekommen – offenbar verschont. Aber dann lag eines Tag dicht am Dorfrand eine Nonnengans, die offensichtlich einem großen Greifvogel (Wanderfalke, Habicht?) zum Opfer gefallen war. Jedenfalls war die Umgebung um die tote Gans übersät von der Rupfung des Greifvogels. Und mittendrin stand der Nonnenganter, der offensichtlich nicht begreifen konnte oder wollte, dass seine Frau nicht mehr zum Brüten in das Eismeer folgen würde. Über eine Woche hielt er es bei seiner toten Gattin aus, ehe er dann endlich verschwand.
Ein anderes Beispiel von Partnertreue berichtete vor einiger Zeit der Nordstrander Landwirt Ernst August Detleffsen, der jahrzehntelang die Hallig Südfall gepachtet hatte, um diese als Schafweide zu nutzen. Ernst August war auch Jäger und schoss eines Tages auf eine vorbeiziehende Schar von Ringelgänsen. Eine Gans stürzte flügellahm zu Boden und flatterte klagend umher. Da löste sich aus der Gänseschar der zugehörige Ganter und landete neben seiner Gattin, ohne sich um die Anwesenheit des Jägers zu scheren. Er kümmerte sich rührend um seine Gans, und Ernst August war so betroffen, dass er beschloss, nie wieder auf Wildgänse zu schießen. Und dies hat er dann auch nie mehr getan.
Gebratene “Briketts”
Im Zusammenhang mit der Übervermehrung der Wildgänse wird von Jägerseite eine verstärkte Bejagung der Wildgänse gefordert, die auch ohne Gefährdung des Bestandes möglich wäre. Aber waidgerechte Jäger scheuen die Gänsejagd, wenn sie an das besondere Familienleben denken. Der frühere Amrumer “Oberjäger” Helmut Scheer hatte eine besondere Methode der Gänsejagd entwickelt. Er schoss nicht mit Schrot, sondern mit einer Kugelbüchse, und zwar aus dem Auto heraus, obwohl dies in Jägerkreisen eigentlich verpönt ist. Aber seine Methode war in hohem Grade “gänse- und damit waidgerecht”. Nachdem er die in den Marschenwiesen äsenden Gänsefamilien beobachtet und, wie es in der Jägersprache heißt, “angesprochen” hatte, erlegte er mit sicherem Schuss die jungen, knapp flüggen Gänse so unauffällig, dass weder Gans noch Ganter, noch die übrigen Jungen kaum etwas bemerkten. Damit wurde der Familienfrieden nicht gestört. Aber der Amrumer Oberjäger hatte noch einen anderen Grund, junge, kaum beflogene Gänse zu schießen. Sie ließen sich am besten für die Bratpfanne zubereiten und schmeckten auch am besten. Ältere Gänse, die schon einige Male die Flüge zwischen Winterquartier und Brutgebiet bewältigt hatten, waren fast so zäh wie Leder und kaum noch zu rupfen.
Als Helmut eines Tages aus einer solchen Gänseschar einige Vögel mit der Flinte (Schrot) zur Strecke gebracht hatte und diese einem Landwirt schenkte, als kleine Entschädigung für die umfangreichen Wildschäden, meldete dieser anderntags, dass sich die muskulösen Vögel in der Bratpfanne zu Briketts entwickelt hätten und ungenießbar gewesen seien.
2022 Georg Quedens
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