Es hat in der Geschichte der Insel Amrum keine Zeit derart großen Wohlstandes gegeben wie in der Gegenwart. Zwar wird die Periode des Walfanges oft das “Goldene Zeitalter” genannt. Aber die Todesraten bei der “Grönlandfahrt” mit den vielen Witwen und Waisen auf Inseln und Halligen reden eine andere Sprache. Und Wohlstand gab es nur in den Häusern der höheren Schiffsführung, Commandeure, Steuerleute und Harpuniere. Aber die gegenwärtige Zeit mit dem Fremdenverkehr hat der Insel einen wirklichen und ungefährlichen Wohlstand bereitet, wie es in früheren Jahrhunderten kaum möglich schien.
Der Fremdenverkehr wurde in den Jahren um 1890 begründet, also vor 125-130 Jahren. Aber es war nicht das erste Hotel auf der bis dahin unbewohnten Amrumer Südspitze Wittdün, erbaut vom Strandvogt und Kapitän Volkert Martin Quedens im Jahre 1889, und es waren auch nicht die Seehospize der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta unter Leitung von Pastor Friedrich von Bodelschwingh ab 1890, die am Anfang des Fremdenverkehres standen, sondern ein einsames Haus auf Steenodde am Ostufer von Amrum. Das hier stehende Gebäude wurde etwa um 1730 von einem Monsieur Johann Maximilian Winckler im Zusammenhang mit einer Station der Austernfischerei errichtet. Es dürfte heute eines der ältesten Friesenhäuser auf Amrum sein und weist eine auffällige, aus dem Rahmen normaler Friesenhäuser fallende Eigenart auf: Es hat zwei Etagen. Die Austernfischerei hatte jahrhundertelang eine große Bedeutung im nordfriesischen Wattenmeer, im Auftrage staatlicher Pächter betrieben von Kuttern von Sylt und Amrum. Und im letzteren Fall erfolgte die Verschiffung ab Steenodde. Monsieur Winckler verkaufte allerdings schon 1732 das Haus mitsamt dem Austern-Geschäftsbetrieb an den Kaufmann Otto Detlev Friedebeck, dem irrtümlich die Erbauung des Hauses zugeschrieben wurde, ehe die akribische und akkurate Inselforscherin Wilma Blechenberg, Süddorf, in den “Sköde- og panteprotokoller” der Birk Westerlandföhr-Amrum (1687 – 1826) eine entsprechende Urkunde entdeckte. Im Jahre 1734 wurde das Haus erneut verkauft, diesmal an den in Oldsum auf Föhr lebenden “Chirurgus” Georg Hinrich Quedens. Dieser zog mit seiner Frau Ehlen, geb. Harken (nach dem Vater Hark Bohn), nach Amrum, wo er das Amt des Zollbevollmächtigten übernahm. Dabei ging es darum, in der Hafenbucht von Steenodde, aber auch vorbeisegelnde Schiffe auf deren Warentransport zu kontrollieren und Zoll zu erheben – ein Amt, das nicht gerade zur Beliebtheit des Betreffenden beitrug. Das Ehepaar Quedens hatte 10 Kinder, zwei noch in Oldsum, die anderen auf Amrum geboren. Zehn Kinder waren nicht ungewöhnlich, aber es kam selten vor, dass fast alle die Eltern überlebten und selbst Familien gründeten. Von den Kindern waren 6 Söhne, und diese wurden die Stammväter fast aller Quedens in Europa und Amerika. Das Amt des Zollkontrolleurs blieb im Hause auf Steenodde und in der Familie auch in den nachfolgenden Generationen erhalten. Hinzu kam dann noch von 1755 bis 1853 das Kassieren von Tonnen- und Bakengeldern, verbunden mit dem Amt des Tonnenlegers sowie die unveränderte Aufsicht über die Amrumer Austernfischerei, Ämter, die weiteren Unwillen bei den insularen Seefahrern begründeten.
Das Haus auf Steenodde, in den Volkszählungen ab 1787 mit der Nummer 85 benannt, blieb bis Mitte des 19. Jahrhunderts das einzige Haus, ehe der 1816 geborene Enkel Volkert Quedens ein weiteres, stattliches Friesenhaus mit großer Scheune 1852 erbaute und wenig später auch der Kapitän Hinrich Philipp Ricklefs auf Steenodde ein Wohnhaus errichten ließ. Inzwischen war aber auch das “Stammhaus” der Familie Quedens durch Heirat in den Besitz der Familie Ricklefs gekommen (Gerret Ricklefs 1794 – 1862, verheiratet mit Keike Quedens), und ging dann auch an den nachfolgenden Sohn Ricklef Gerret Ricklefs (1825 – 1907) über. In den 1880er Jahren war das Haus, das später als Gaststätte den Namen “Zum lustigen Seehund” erhielt, im Besitz eines aus der Gegend von Hannover stammenden Architekten, der der eigentliche “Entdecker” von Amrum und Begründer des Fremdenverkehres war: Ludolf Schulze, oft auch Schulze-Waldhausen genannt, weil er die dortige Villenkolonie aufgebaut hatte. Geboren am 20. Juni 1840 in Hoya an der Weser, zog er 1878 nach Waldhausen bei Hannover (heute Ortsteil), heiratete 1877 Adolfina, geb. Hesse, und arbeitete als Maler, Dichter, Kunstkritiker, Journalist und Architekt sowie als Lehrer. Im Jahre 1885 weilte er als Kurgast in Wyk. Mit einem “Lustkutter” – wie damals die Ausflugsschiffe genannt wurden – besuchte er Amrum, entdeckte hier die Schönheit einer noch ganz unberührten Insel und wurde in seiner Eigenschaft als Architekt angeregt, den Aufbau eines kompletten Seebades zu planen. Unter dem Datum vom 1. September 1885 richtete Ludolf Schulze an die Gemeinde (damals Gesamtgemeinde) einen Antrag mit der Bitte um die “Badekonzession” für die Durchführung seiner Idee. Dabei malte er die Vorteile aus, die eine solche Badeanlage mit sich bringen würde, “Dass Handel und Wandel sich heben, Arzt und Apotheke herbeigeführt und bei dem außerordentlich biederen Sinn der Inselbewohner größerer Wohlstand die guten hiesigen Sitten nicht verderben würde….Und was die Lage eines Bades betrifft, so ist die geeignetste an der Südspitze gefunden….” Schon drei Tage später befasste sich die Gemeindevertretung mit diesen Antrag und lehnte ihn einstimmig ab. Groß waren nicht nur die moralischen Bedenken (“Es ist nicht Sitte, dass hiesige Einwohner ins Wirtshaus gehen und die sittlichen Verhältnisse sind so gefestigt, dass bei einer Einwohnerschaft von 600 – 700 Personen nur alle zehn Jahre ein uneheliches Kind geboren wird…”). Man befürchtete auch, dass Insulaner sich in Schulden stürzen würden, um große Gästehäuser zu bauen, “um dann auf scheinbar bequeme Art zu leben…” und gelangte zu der Überzeugung, “dass die Anlage eines Seebades auf Amrum kein dauernder Segen sein kann”.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse auf Amrum waren allerdings keineswegs rosig. Nach dem Staatswechsel von Dänemark zu Preußen bzw. dem Deutschen Reich waren die Steuern wesentlich erhöht worden (für den Militärfimmel im deutschen Kaiserreich) und die 1735 durch den dänischen König verfügte “Befreiung vom Kriegsdienst für ewige Zeiten” aufgehoben worden. Die Amrumer mussten nun – ganz ungewohnt – der strengen, zweijährigen deutschen Militärpflicht Genüge tun, und es begann eine umfangreiche Auswanderung nach Amerika – die Flucht der Inseljugend vor dem neuen Staat!
Ludolf Schulze-Waldhausen aber ließ es bei der Ablehnung seines Antrages nicht bewenden. Er kaufte das Haus mit der Gaststätte, dem späteren “Lustigen Seehund” auf Steenodde, am 1.Dezember 1886 für 1200 Mark von Carl Ricklefs und berief im Mai 1888 eine Versammlung für alle “am Bade interessierten Insulaner” ein. Es wurde eine Badekommission gegründet, Preise und Leistungen festgelegt und insgesamt 65 Betten, 18 in Steenodde, 15 in Süddorf, 30 in Nebel und 2 in Norddorf angemeldet. Damit hatte der hannoversche Architekt Schulze den Fremdenverkehr auf Amrum begründet und gleichzeitig auch sein Haus auf Steenodde mit Fremdenzimmern zur Verfügung gestellt.
Er hatte dann aber an der weiteren Entwicklung keinen Anteil mehr. Die Ereignisse auf der unbewohnten Amrumer Südspitze Wittdün mit dem dortigen überschwenglichen Landverkauf an Auswärtige und Einheimische, die Gründung des Badeortes Wittdün, die Errichtung eines noblen “Kurhauses” an der Satteldüne und der Bau der Seehospize in Norddorf durch Pastor Bodelschwingh, gingen über Ludolf Schulze hinweg, der bald darauf, im Jahre 1893, starb.
Ludolf Schulze-Waldhausen, der eigentliche “Entdecker” der Insel Amrum und Begründer des “Goldenen Zeitalters” Fremdenverkehr, ist heute auf Amrum vergessen, zumal er auch keine Gebäude und Einrichtungen hinterlassen hat, wie andere Protagonisten (Volkert Quedens, Paul Köhn, Heinrich Andresen in Wittdün oder Pastor Bodelschwingh und Heinrich Hüttmann in Norddorf). Auch das Stadtarchiv Hannover, das dortige Niedersächsische Landesarchiv und das historische Museum verfügen nur über spärliche Nachrichten. Ebensowenig war es möglich, ein Foto von Ludolf Schulze zu erhalten, weil das Standesamt Hannover aus Datenschutzgründen die Auskunft über Nachkommen verweigerte, die vermutlich Familienfotos besitzen.