Seehunde und Menschen – von der Vergangenheit und Gegenwart …


Bild (© Sven Sturm): Ein Seehund auf dem Amrumer Kniep. Für Amrum ganz normal.

„Vielen Dank für Ihren Anruf, wir geben die Informationen an die Seehundjäger weiter“. So beenden die Mitarbeiter des Naturzentrums Amrum des Öömrang Ferian i.f. und der Schutzstation Wattenmeer in der Regel das Telefonat besorgter Strandspaziergänger, die einen Seehund melden. Beim Wort „Seehundjäger“ sind dann doch einige Anrufer irritiert. Dabei ist ein Seehundjäger heute nicht mehr gleichzusetzen mit einer Person, die Seehunde für den Fleisch- oder Fellerwerb bejagt.

Seehunde sind in Schleswig-Holstein zwar im Jagdgesetz erfasst, seit 1974 allerdings mit ganzjähriger Schonzeit. Das heißt schlichtweg, die Tiere dürfen das ganze Jahr über nicht bejagt werden. Anders sah dies noch Anfang des 20ten Jahrhunderts aus. Den Küstenfischern oblag ein Gewohnheitsrecht auf die Seehundjagd. Dies hatte zur Folge, dass die Seehundbestände drastisch zurück gingen und schließlich erstmals mit dem Reichsjagdgesetz von 1934 eine gesetzliche Regelung zur Jagd der Tiere in Kraft trat. Eine Schonzeit vom 1. März bis zum 15. Juli und die Einrichtung von Seehundschutzgebieten sollten dafür sorgen, dass sich der Bestand wieder erholt. Viel Zeit, um sich zu erholen, hatten die Seehunde nicht, denn viele junge Tiere wurden nach dem zweiten Weltkrieg wegen ihres Fells gejagt. Dem Bestand ging es wieder schlechter. Im Jahre 1951 erfolgte eine neue Regelung, die besagte, dass nur noch als Seehundjäger anerkannte Fischer und Halligbewohner die Tiere jagen dürfen. Dies war die letzte Regelung bis zur 1974 festgelegten heutigen ganzjährigen Schonzeit. Die Bestände konnten sich nun endlich erholen- bis zu den zwei großen Staupeepidemien. Die erste Epidemie1988 reduzierte den Bestand um 57 %, die zweite 2002 um 50 %. Heute haben wir im Wattenmeer wieder einen Bestand von annähernd 40.000 Seehunden. Das sind schätzungsweise so viele, wie um 1900, bevor die Umweltverschmutzung in der Nordsee und die Jagd einen größeren Einfluss auf den Bestand ausübte. Experten vermuten, dass mit mittlerweile 40.000 Tieren die maximale Bestandsgröße im Wattenmeer erreicht ist. Das Ökosystem Wattenmeer kann in etwa dieser Anzahl an Tieren ein gutes Leben bieten. Um viel mehr Tiere wird der Bestand demnach von sich aus nicht mehr ansteigen. Zum Vergleich, 1974, als man die ganzjährige Schonzeit auf Seehunde einführte, gab es vermutlich nur noch etwas über 5.000 Tiere im Wattenmeer.

Heute beobachtet das Gemeinsame Wattenmeersekretariat (Common Wadden Sea Secretariat- CWSS) mit Sitz in Wilhelmshaven den Bestand der Seehunde. Sie ist eine von den Wattenmeeranrainern Dänemark, Deutschland und den Niederlanden 1987 gegründete Koordinierungsstelle der Trilateralen Wattenmeerzusammenarbeit. Das Sekretariat hat viele Aufgaben. Es ist zum Beispiel die zentrale Kontaktstelle für das UNESCO Welterbe Wattenmeer. Außerdem erfasst und beurteilt es Monitoringdaten und Informationen über den Schutz und den ökologischen Zustand des gesamten Wattenmeeres. Das Wattenmeersekretariat dient auch als Sekretariat für das Abkommen zur Erhaltung der Seehunde im Wattenmeer. Dieses wurdeals erstes Regionalabkommen im Rahmen des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten verabschiedet.

Vor Ort, dort wo Seehunde an den Stränden liegen, aber vor allem dort, wo sich auchviele Menschen aufhalten, kommen Seehundjäger ins Spiel. Sie sind geprüfte Jagdaufseher, die vom Umweltministerium für das Amt des Seehundjägers bestellt werden und hierfür stetig an Weiterbildungen teilnehmen. Anstatt Seehundjäger könnte man sie auch Seehundbeauftragte nennen. Sie beobachten und bergen kranke und verletzte Tiere, die an die Seehundstation Friedrichskoog weitergegeben werden. Schwerkranken Tieren ersparen sie weiteres Leid und übernehmen die tierschutzgerechte Tötung. Als Beobachter vor Ort und Akteur am Tier sind sie außerdem häufig unentbehrliche Mitarbeiter bei Forschungsvorhaben. Alle der aktuell 45 Seehundjäger an Schleswig-Holsteins Nordseeküste arbeiten ehrenamtlich und gehen nebenbei ihren regulären Berufen nach. Vor allem in den Sommermonaten bedeutet dies den Verzicht auf jegliche Freizeit, denn gerade jetzt sind die Anrufe besorgter Spaziergänger besonders häufig. Der Tourismus auf Amrum blüht auf, viele erkunden den weiten Kniep. Hinzu kommt, dass zwischen Juni und Juli  die Seehundjungen auf den bei Ebbe trocken fallenden Sandbänken geboren werden und spätestens nach der Säugezeit auch mal den Amrumer Kniep erkunden.

Bei keiner anderen Robbenart ist die Verbindung zwischen Mutter und Kind bis Ende der Säugezeit so zeitintensiv. Schon mit der nächsten Flut folgt das Junge der Mutter ins Wasser. Es hat bereits als Neugeborenes das gleiche Fell wie ein erwachsenes Tier und somit keine Schwierigkeiten mit dem kühlen Nass. Trotzdem muss sich das Junge schnell Fettpolster antrinken. Nur während Niedrigwasser wird es von der Mutter auf der Sandbank gesäugt. Somit hält es auch mehrere Stunden ohne die mit 45 % Fettgehalt reichhaltige Milch des Muttertieres aus. Die Säugezeit ist mit 4 bis 6 Wochen kurz. In dieser Zeit verdreifachen die Jungen ihr Gewicht, etwa auf 25 kg. Das Fettpolster dient auch als Notreserve, falls das Muttertier von dem Jungen getrennt wird. Zusätzlich lernt das Junge schon in der Säugezeit, wie man Garnelen und kleine Fische jagt, bevor es als erwachsenes Tier größere Fische bevorzugt. Damit es mit dem Muttertier in Kontakt bleibt, wenn diese zum Beispiel mal alleine auf der Jagd nach größeren Fischen ist oder durch Störung ins Wasser flieht, stößt das Jungtier Klagelaute aus. Erst wenn das Junge das Muttertier dauerhaft verloren hat und als Waise bezeichnet werden kann, wird es aufgrund seiner Klagelaute auch „Heuler“ genannt. Ihre großen Augen, die geringe Körpergröße und die Klagelaute lassen sie auf den Menschen besonders hilfebedürftig wirken.

Tatsächlich ist der Mensch selber ein großer Risikofaktor für die Seehunde, insbesondere für die Jungtiere. Seehunde reagieren empfindlich auf Menschen, die in ihren vermeintlich sicheren Lebensraum eindringen, indem sie ihnen zu nahe kommen. Als Reaktion ist der Seehund gestresst. Als Folge fliehen Erwachsene und Jungtiere oft ins Wasser oder kommen gar nicht erst aus dem Wasser heraus, obwohl sie sich auf dem Kniep gerne ausruhen möchten. Vor Allem bei den Jungtieren, die noch in der Säugezeit sind, hat die Störung fatale Folgen. Je mehr Zeit sie unter einer Störung leiden, desto weniger Zeit bleibt fürs Säugen und das in der ohnehin sehr kurzen Säugezeit von nur wenigen Wochen. Es droht eine Unterernährung. Etwa 50 % der Seehunde im Wattenmeer verenden schon im ersten Lebensjahr, auch aufgrund des menschlichen Störeinflusses. Hat das Jungtier die Säugezeit gut überstanden, wird es nach dieser Zeit vom Muttertier alleine gelassen. Häufig sieht man dann auf dem Kniep vermeintliche Heuler. Sie sind mit ihren bis zu 25 kg noch nicht so groß wie ein erwachsenes Tier, welches bis zu 100 kg wiegen kann. Sie sind aber bereits von der Mutter entwöhnt und vollständig alleine überlebensfähig. Um die Tiere, egal welchen Alters, so wenig wie möglich zu stören, sollte ein größtmöglicher Bogen um sie herum gegangen werden. Die Empfehlung liegt bei mindestens 100m, lieber 200m. Sicherlich ist dies auch abhängig von dem am Strandabschnitt machbaren. Mit einem Fernglas darf das Tier dann gerne von Weitem beobachtet werden. Kommt dem Beobachter etwas suspekt vor, ist das Tier zum Beispiel in Seilen verwickelt oder hat erkennbare Verletzungen, sollte das Tier den Seehundjägern gemeldet werden. Diese können das Tier beurteilen und über die nächsten Schritte entscheiden.

Wird ein Tier bei einer Naturschutzorganisation gemeldet, erfolgt eine schnelle Informationskette zwischen Naturschutzorganisation und den Seehundjägern. Ist ein Seehundjäger zu dem Zeitpunkt der Meldung zufällig auf dem Kniep und in der Nähe des Fundorts unterwegs, kann er innerhalb von wenigen Minuten vor Ort sein. Im Normalfall allerdings muss der Seehundjäger seine reguläre Arbeit unterbrechen oder zu Ende bringen, bevor er das gemeldete Tier beobachten und bewerten kann. Selbst wenn er zum Zeitpunkt der Meldung bereits seinem Ehrenamt nachgeht und ein anderes Tier beobachtet, kann es eine Weile dauern, bis er das nächste Tier erreicht hat, sollte dieses zum Beispiel am anderen Ende der Insel gemeldet worden sein. Auf ihren Fahrten werfen die Seehundjäger zudem auch einen Blick auf alle anderen am Strand liegenden Seehunde, um sich einen Eindruck über deren Gesundheitszustand zu verschaffen. Das ein Seehundjäger bei seinem Ehrenamt nicht immer sofort an Ort und Stelle sein kann, stößt bei vielen Menschen auf großes Unverständnis. Nicht selten werden Seehundjäger bei Ankunft am Tier erst einmal vom Anrufer beschimpft. Für die Seehundjäger heißt es in solchen Situationen Ruhe bewahren und für das Tier handeln. „Vor 30 Jahren waren die Leute noch anders“, weiß Leve Domeyer, Seehundjäger auf Amrum, von seinen älteren Kollegen. „Damals wussten noch viel mehr Menschen, dass Seehunde an der Nordsee normal sind und sich auch nicht permanent im Wasser aufhalten, sondern auch mal am Strand liegen, um sich auszuruhen. Außerdem war es für die Menschen damals auch kein großes Drama, wenn ein Tier das leidet erlöst werden musste. Heute reagieren die Leute in solchen Situationen geschockt. Abends grillen sie dann das Fleisch aus Massentierhaltung und unterhalten sich darüber, wie grausam Seehundjäger sind. Es ist verquer“. Von Erlebnissen mit Mensch-Seehundbegegnungen oder auch Mensch-Seehundjägerbegegnungen können die Naturschutzorganisationen und Seehundjäger einige Geschichten erzählen.

Im Naturzentrum Amrum weiß man, dass häufig ein Grundwissen über die Nordsee und ihre Bewohner zu fehlen scheint. Das Naturzentrum erhält nicht selten Anrufe von Menschen, die sich generell wundern, Seehunde am Strand zu sehen. Einige sorgen sich, dass die Tiere nicht mehr zurück ins Wasser finden. Ein Anrufer wiederum hat einmal versucht, einen Seehund aufzuhalten als dieser versucht hat ins Wasser zu gelangen. Er dachte, das Tier sei noch zu klein und dürfe nicht ins kühle Nass. Davon abgesehen, dass die Jungtiere im Wasser bestens zurecht kommen, stellte sich heraus, dass es sich um ein erwachsenes Tier von etwa 100 kg handelte. Generell werden die meisten Seehunde fälschlicherweise für hilflose Jungtiere gehalten, die dringend Hilfe bedürfen. Die Anrufer werden von den Mitarbeitern des Naturzentrums über das normale Verhalten der Seehunde informiert. Oft sind die Anrufer dann schon etwas beruhigter.
Weniger sorglos sind die Menschen, die versuchen mit den Seehunden Selfies zu machen. Auch hier gibt es immer wieder Anrufe beim Naturzentrum Amrum von besorgten Spaziergängern, die diese Szenen beobachten. Einige Menschen versuchen sogar, ihre Kinder auf die Seehunde zu setzen und so ein Foto zu ergattern. Solche Fotoaktionen bedeuten nicht nur einen unglaublichen Stress für das Tier, sondern auch eine große Gefahr für den Menschen. Die Tiere sind wehrhaft und durchaus in der Lage, kräftig zuzubeißen. Das tut nicht nur weh, sondern kann über Bakterien zu schweren Infektionen führen. In diesen Fällen retten die Seehundjäger Tier und Mensch.

Wer einen verletzten Seehund findet, kann diesen unter einer der folgenden Nummern melden:

Seehundjäger: 0160 91820419

Naturzentrum Amrum: 04682 1635

Schutzstation Wattenmeer: 04682 2718

 

Quellen und weitere Informationen:

 

https://www.nationalpark-wattenmeer.de

https://www.waddensea-secretariat.org

 

 

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Über Lotte von Komorski

Lotte von Komorski wurde 1988 in Heidelberg geboren und wuchs später in der Lüneburger Heide auf. Nach dem Bachelorstudium der Forstwirtschaft in Göttingen absolvierte sie noch ihren Master in Wildtierökologie und Wildtiermanagement in Wien. Nach vielen praktischen Erfahrungen in der Wildtierforschung und ersten Berufserfahrungen in der Naturschutzarbeit in Osteuropa zog es sie Ende 2018 aus Frankfurt am Main nach Amrum, um hier das Naturzentrum zu leiten.

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