Wilma Blechenberg, geborene Martens


Weil Amrum so klein ist und im Winter nicht viel mehr als 2000 Menschen zählt, spricht sich alles auch ohne die modernen Kommunikationsmittel schnell herum. Auf diese Weise wurde auch der Tod von Wilma Blechenberg am 23. Januar bekannt, ein Ereignis, das ansonsten “ohne Sang und Klang” erfolgte, auf Amrum wie auch auf dem Festland. Es gab in der hiesigen Tageszeitung “Der Insel-Bote” nicht einmal eine Todesanzeige, und im Pastorat wusste man von nichts. So unauffällig wie Wilma Blechenberg kommt selten jemand aus der Welt – und das ist bemerkenswert!

Denn Wilma, die zeitlebens großes, öffentliches Gewese scheute, war eine gewichtige Persönlichkeit der Inselkultur und wird mit ihrem Werk, der Regionalforschung, noch lange weiterleben. In der zukünftigen Inselgeschichte wird ihre Lebensarbeit – bei verantwortungsvollem Gebrauch – noch öfter eine Rolle spielen.

Wilma Blechenberg

Wilma wurde am 5. Dezember 1934 geboren. Ihre Eltern waren Max Conrad Johannes Martens und Margarethe Wilhelmine Christine Lux, letztere gebürtig aus Harrisleefeld. Und so, wie im Nachbardorf Nebel die Familie Schmidt dominierte, war es in Süddorf die Familie Martens, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit Martin Martens (1806 – 1883) und Knudt Martens (1809 – 1892) noch die letzten Amrumer Grönlandkommandeure stellte. Knudt Martens war der Ururgroßvater von Wilma. Der Vater Max wird im Amrumer Einwohnerverzeichnis als Maurer genannt. Ältere Insulaner kennen ihn aber auch als Betreiber eines Kiosks am Abgang zur Wittdüner Brücke.

Das Ehepaar Max und Margarethe Martens wohnte mit drei Kindern in Nebel in nicht gerade üppigen Verhältnissen. Im Kriege wurden die Kinder zusammen mit der Mutter sowie mit anderen Amrumern nach Rügen geschickt – keiner der Beteiligten weiß aber noch, warum. Ob die Wehrmacht eine Invasion Amrums durch die Briten befürchtete?

Nach der Schulzeit war Wilma Martens Sprechstundenhilfe beim Zahnarzt Delaporte in Nebel und heiratete in Hamburg Heinz Blechenberg, der als Vertreter der Pharmaindustrie unterwegs war. Die Familie Blechenberg soll im 18/19. Jahrhundert am dänischen Königshof, insbesondere zu Zeiten von Struensee (1771 Staatsminister, 1772 nach einer Affäre mit der Königin hingerichtet), eine Rolle gespielt haben. Ein Wappen auf dem Grabstein von Heinz Blechenberg könnte auf diese Zeit hindeuten.

Die Ehe von Wilma und Heinz blieb aber – zum großen Kummer der Schwiegereltern – kinderlos. Und der Ehemann wurde nicht alt. Geboren am 30. Dezember 1925, starb Heinz schon am 8. März 1993.

Wilma hat ihren Mann auf seinen Geschäftsreisen oft begleitet und saß dann im Auto zum Stricken, worin sie es zu einer gewissen Meisterschaft brachte. Aber sie nutzte die Zeit auch, um in norddeutschen Archiven ihre heimatkundlichen Forschungen zu betreiben.

Es ist nicht bekannt, wann und warum die “einfache” Nichtakademikerin aus Süddorf ihre Leidenschaft für die Erforschung der Inselgeschichte und insbesondere für Geschichte der Inselbewohner entwickelte, die sie mit unglaublicher Akuratesse betrieb. Neben dem Studium der Kirchenbücher mit den Personendaten aller Amrumer seit 1694 (nicht viele andere Kirchengemeinden können ihre Personendaten so weit zurückverfolgen), sammelte Wilma Fotos der “alten Amrumer”, soweit verfügbar, stöberte in den Häusern nach alten Papieren, kopierte in den Archiven, was dort über Amrum zu entdecken war und war auch auf jedem Flohmarkt zu finden. Dabei entdeckte sie immer Schätze, die von den Eigentümern achtlos für einige Groschen verkauft wurden. Zugleich erwarb sie eine umfangreiche Literatur der nordfriesischen Heimat, darunter auch dänische, für die sie sich die notwendigen Sprachkenntnisse aneignete.

So baute Wilma ein halbes Jahrhundert lang in fast fanatischer Tätigkeit eine Sammlung und ein Archiv auf, das in dieser Art wohl einmalig und für Amrum das bedeutendste ist. Aber leider war sie mit ihrer Arbeit eher “geheimnisvoll”. Sie publizierte ganz selten im Inselboten, und deshalb blieb ihre wertvolle Tätigkeit sowohl lokal als auch regional in Nordfriesland nahezu unbekannt. Ihre Forschungen und Sammlungen, ihre Entdeckungen von Akten über Amrum in auswärtigen Archiven behielt Wilma überwiegend für sich, und damit blieb ihre Arbeit weitgehend ein Geheimnis ihrer Kellerkammern. Aus Austausch mit anderen Regional- bzw. Heimatforschern fand kaum statt. Dabei beobachtete Wilma aber die Publikationen anderer mit kritischer Akribie und machte es geradezu zu ihrem Hobby, Fehler in Daten und Deutungen zu finden, die aber z. B. bei den Personalien allein schon aufgrund der verbreiteten Namensgleichheiten im alten Amrum unvermeidbar waren. Sie hatte offenbar selbst große Angst davor, einen Fehler zu Papier zu bringen und hütete sich deshalb vor eigenen Publikationen. Denn nur wer nichts macht, macht auch keinen Fehler. Als z. B. Professor Martin Rheinheimer von der Syddansk Universität Esbjerg, der sich um die Erforschung der Inselgeschichte einen Namen gemacht und große Verdienste erworben hat, im Jahr 2008 das Buch “Die Geschlechterreihen der Insel Amrum” aus der Zeit von 1694 bis 1918 vorlegte, konnte Wilma Blechenberg “gar nicht so schnell Bleistifte spitzen, um alle Fehler anzukreuzen…”. Tatsächlich ließ sich in diesem wertvollen Werk mit tausenden von Namen nur einmal bei einer Namensgleichheit e i n Fehler finden. Andererseits hat Wilmas Entdeckerdrang zu einer wichtigen Korrektur der Amrumer Geschichte geführt: das erste Haus auf Steenodde wurde nicht, wie in der Literatur vermerkt, im Jahre 1732 im Zusammenhang mit einer Austernstation von dem Hamburger Kaufmann Otto Friedebeck erbaut, sondern schon um 1730 von einem Monsignore J. M. Winckler. 1734 erwarb der von Föhr kommende Zollkontrolleur und Austernkommissar Georg Hinrich Quedens das Haus und machte es zum Stammhaus der heute weit verzweigten Familie Quedens. Später war es als Gaststätte “Lustiger Seehund” bekannt. Für die Amrumer “Geschlechterreihen” wäre auch Wilma prädestiniert gewesen, und angeblich soll sie darüber auch mit Frederik Paulsen von der Ferring Stiftung gesprochen haben.

Wilma war äußerst beflissen, wenn es darum ging, “Stammtafeln” zu erarbeiten. Für etliche Insulaner hat sie solche mit der ihr eigenen Akuratesse ausgearbeitet und konnte damit ihr umfangreiches Wissen über die Bewohner von Amrum unter Beweis stellen. Als der Öörang Ferian im Jahre 2008 mit einer Ausstellung im ehemaligen Schwimmbad Norddorf (arrangiert übrigens von der Syddansk Universität unter der Regie von Prof. Rheinheimer), da legte Wilma vor den Versammelten einen diverse Meter langen und breiten Stammbaum von Hark Olufs und seinen Amrumer Nachkommen und Verwandten vor. Denn Etliche waren geradezu darauf versessen, von Hark Olufs abzustammen!

Ebenso besorgte Wilma im Jahre 1997 den fotomechanischen Nachdruck des 1914 erschienenen Buchs “Kinder Frieslands” der Lehrerin Ida Matzen. Dieses Buch vermittelt das Leben auf Amrum im 19. Jahrhundert, ist allerdings mit religiösen Zutaten überladen und deshalb ein schwer zu verdauender Lesestoff. Für den Kenner der Inselgeschichte ist es aber eine Fundgrube. Wilma Blechenberg hat im Eigenverlag ein Buch mit Erklärungen zu den Namen und Fakten der “Kinder Frieslands” herausgegeben. Und dieses ist leider die einzige gedruckte Publikation ihres ungeheuren Wissens und ihres verborgenen Archivs im Keller ihres Hauses in Süddorf. Deshalb blieb Wilma überregional auch weitgehend unbekannt und fand auch durch die nordfriesischen Kulturinstitutionen und Behörden nicht die Anerkennung und die Orden, die sie verdient hätte. Diese wurden eher anderen für oft dünne Beiträge zur Heimatkultur und -geschichte oder bloße Behördenkarrieren umgehängt.

Wilma hat auch nach dem frühen Tod ihres Mannes Heinz – er wurde nur 68 Jahre alt – mit unverändertem Fleiß und zu nicht geringen eigenen Kosten weitergearbeitet. Die Erforschung von alten Geschichten und Lebensläufen kann sich wahrlich zu einer Leidenschaft und dem Streben nach Perfektion entwickeln!

In Süddorf galt früher – vielleicht auch noch heute – immer einer Art Gemeinschaftsleben (z. B. eigene Feuerwehr, Theatergruppe, Gemeindevertreterwahl). Aber Wilma war im Dorfleben nicht integriert. Sie hielt sich aus aller Öffentlichkeit heraus, war mit Verwandtschaft und Nachbarn mehr oder weniger verzankt, ebenso mit der Gemeinde Nebel (wegen des Fahrradwegs längs der Autostraße). Auch im Öömrang Ferian, in der Betreuung des Öömran Hüs in Nebel konnte sie nur eine beschränkte Zeit mitarbeiten und war dann mit allen “über Kreuz”, wozu oft kleine Anlässe genügten. Sie verweigerte sich leider auch der Aufnahme in die “Amrum-Chronik”, und deshalb fehlen hier Foto und Lebenslauf einer Frau, die ungenannt und unbekannt zu den größten Persönlichkeiten der Insel zählt. Den Erben ihres Archivs ist eine gewaltige Aufgabe und Verantwortung zugefallen, und man kann nur hoffen, dass das Lebenswerk von Wilma Blechenberg der Insel erhalten bleibt.

2021 Georg Quedens

Urheberrecht beim Verfasser

 

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One comment

  1. So sang- und klanglos war das nun auch wieder nicht.
    Die Todesanzeige stand am Samstag, dem 30. Januar im Insel-Boten, allerdings weit hinten. Da hat man wohl keinen Einfluss drauf.
    Erwähnenswert finde ich ebenfalls die Tatsache, dass Wilma Blechenberg nach Ihrem schweren Schlaganfall 2006 linksseitig mehr oder weniger gelähmt war. Trotzdem hat sie sich nie unterkriegen lassen und war immer ein großer Kämpfer, auch wenn sie sich manchmal vielleicht etwas verrannt hatte. Zum Schluß kam noch eine schwere Demenz hinzu, da war ihre Kraft allerdings dann doch erschöpft.
    Ein Original von der Insel, das war sie. Ein Charakter.

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