Auf Amrum kennt jeder jeden? Stimmt nur fast und nachfragen lohnt sich trotzdem: Hoker beest dü? An: Hü gong’t? Wer bist du? Und: Wie geht’s?
Martin Segschneider, Pastor i.R.: „Ich kannte hier so ziemlich alles, was am Boden wächst“
„Nach Amrum zogen wir am 23.1.1975. Es stürmte, regnete und gewitterte, als wir mit der Fähre übersetzten. In Nieblum schlug der Blitz in die St. Johanneskirche ein und auf der alten Wittdüner Brücke schlug das Wasser von unten durch die Plankenritzen und spritzte auf die Fahrbahn. Wir kamen mit dem Möbelwagen vom Timmendorfer Strand, dort war ich Internatsleiter gewesen. Einer der Möbelpacker bekam es mit der Angst zu tun, aber der Fahrer sagte: „Keine Sorge, ich bin zur See gefahren.“
In Nebel war um unsere Tür ein grüner Kranz gewunden und auf einem Schild stand: „Herzlich willkommen“. Frau Pörksen begrüßte uns und sorgte dafür, dass wir erstmal was zu essen bekamen. Wir gingen zu Tina Meyer (geb. Quedens) und aßen eine schöne Suppe. Das querstehende, weiße Haus, wo der Uasterstigh und der Waasterstigh zusammenkommen, das war damals „Quedens Gasthof“.
Kennen gelernt habe ich Amrum aber schon vorher, durch meine Frau Renate. Sie ist als Kind 1933 mit ihren Eltern im Hospiz gewesen und danach bei der wunderbaren „Oma Martha“ im Henershugh – Martha Peters, der Großmutter von Hilke Blome und Enkelin von Pastor Lorenz Friedrich Mechlenburg.
1954 haben wir uns verlobt, Renate und ich. Und unsere Verlobungsreise? Ging natürlich nach Amrum. Zwanzig Jahre lang sind wir oft hier im Urlaub gewesen. Wir sagen manchmal scherzhaft, dass unsere vier Kinder auf dem Kniepsand großgeworden sind.
Als wir hörten, dass auf Amrum die Pfarrstelle frei wird, haben wir Familienrat gehalten, mit dem Ergebnis: Jawohl! Wir wollen nach Amrum.
Im Dezember 1974 bekam ich dann einen Brief von Pastor Erich Pörksen. Er lud mich zur Kirchenvorstandssitzung ein. Ich hielt einen Probegottesdienst mit dem Amrumer Segen. Das war mir ja nicht fremd, ich war so oft bei Pastor Pörksen im Gottesdienst und in den Abendfeiern gewesen. Das gehörte einfach zum Urlaub.
Der Kirchenvorstand wählte mich und zwar einstimmig. Als ich dann hier war, erzählte Kurt Flor mir augenzwinkernd: „Sie waren ja auch der einzige Bewerber.“ Kurt Flor hatte Humor.
Ich habe sehr schnell Kontakte geknüpft, sehr schnell Öömrang gelernt. Zusammen mit meiner Frau habe ich mehrere Friesisch-Kurse bei Jens Quedens an der Volkshochschule gemacht. So konnte ich mit den alten Amrumern Öömrang sprechen.
Pastor Pörksen habe ich oft gefragt: „Wie funktioniert das hier auf Amrum? Wie haben Sie das gemacht?“ Für ihn war es nicht immer leicht, loszulassen und ich habe versucht, seine Linie weiterzuführen. Ich bin nicht so ein Mensch, der dauernd etwas anders machen muss. Wenn etwas gut funktioniert, dann lasse ich es so.
Als ich mal auf einer Tagung auf dem Festland war, guckte mich Bischof Alfred Petersen an und fragte: „Na, Bruder Segschneider, wie gefällt es Ihnen denn so als Vikar von Erich Pörksen?“ Der wusste Bescheid. Er kannte seinen Erich natürlich.
Mich kratzte das nicht. Ich machte einfach meinen Dienst und ging weder patriarchal noch autoritär an Dinge heran. Eher demokratisch. Ganz hervorragend war die Zusammenarbeit mit dem Kirchenmusiker Wolfgang Heldmann und dem Kirchendiener Karl-Heinz Odefey. Und wenn ich mit dem Chor auf Fahrt war, hat Renate die Abendfeiern gehalten und viel Lob dafür bekommen.
Im Inselleben hat sich einiges entwickelt in der Zeit von 1975 an. Nicht nur der Wald wuchs hoch, sondern auch Häuser aus der Erde. Es wurde gebaut, gebaut, gebaut. Die Zweitwohnungen nahmen zu. Das hat – wie so vieles – zwei Seiten. Es kam Geld nach Amrum und es kam auch mehr Unruhe nach Amrum. Der Sylt-Effekt ist ja allgemein bekannt. Aber es sind auch viele sehr nette, tüchtige Leute unter den Zweitwohnungsbesitzern, die sich gut in das Amrumer Leben eingefügt haben, die hier mitarbeiten und mitwirken. Heute nennt man es Integration. Ich würde sagen: Manche haben sich voll integriert.
Mir ist Amrum zur zweiten Heimat geworden. Die erste ist Ostpreußen. Mein Lieblingsplatz hier auf der Insel ist die Böle-Bonken-Bank in Nebel, mit Blick über den Nationalpark nach Föhr, zu den Halligen rüber. Die Schiffe kann man sehen, die Watvögel kann man sehen und kein Auto kommt vorbei.
Mein ursprüngliches Hobby war die Amrumer Botanik. Ich kannte hier so ziemlich alles, was am Boden wächst. Jetzt sammle ich Briefmarken. Die Freude daran habe ich von meinem Vater übernommen, ebenso wie den rheinischen Humor und den Beruf. Mein Vater war Pfarrer – so hieß das in Ostpreußen. Er ist im August 1937 an Herzschlag gestorben, nach dem zweiten Verhör durch die Gestapo. Er war bei der Bekennenden Kirche und die Nazis verfolgten ihn. Bei seinem Tod war er 42 Jahre alt.
Was in meinem Leben für mich besonders hervorsticht, das sind die Hilfsbereitschaft und die Umsicht anderer Menschen.
Das fing schon im Krieg an. Ich war 16 und Marinehelfer in Memel. Wir waren eingekesselt und sollten evakuiert werden. Unsere Sprecher wollten das nicht, die sagten: „Wir wollen unsere Heimat verteidigen.“ Da hat der befehlshabende Admiral Brinkmann zurücktelegrafiert: „Hört mal zu Jungs. Tut, was ich euch sage. Deutschland braucht euch nach dem Krieg mehr als jetzt.“ Ohne diesen Befehl wäre ich wahrscheinlich in Russland umgekommen.
Kurz bevor der Krieg zu Ende war, gab es noch so eine Situation. Es hieß: „Alle Marinehelfer, die eine Anschrift im nichtbesetzten Gebiet haben, dürfen entlassen werden.“ Ich hatte noch eine einzige Anschrift. Das waren die Eltern eines Vikars meines Vaters. Sie lebten auf einem Gutshof in der Nähe von Rostock. Die habe ich angerufen und sie sagten: „Natürlich kannst du kommen.“
Im April 1945 bin ich also dorthin, habe da den Einmarsch der russischen Soldaten erlebt, Typhus gekriegt und lag sieben Wochen im Krankenhaus. Es gab keine Medikamente, nur drei Mal am Tag einen Becher Gemüsesuppe. Ich habe es überlebt. Auch dank einer Schwesternschülerin aus Danzig, die mich pflegte und sich rührend um mich kümmerte. Sie war 17.
Und so geht es weiter. Als es letzten Sommer bei uns brannte: Ohne die Hilfe unserer Familie, Nachbarn und Freunde wäre es schwierig gewesen.
Bei meiner Arbeit als Pastor war ich immer und überall herzlich willkommen. Und mittendrin. Bei Geburtstagsbesuchen erfuhr ich viel über die Amrumer Netzwerke; ich lernte, wer zu wem gehört und wer wo sitzt, in der Feuerwehr, im Gesangsverein, im Kartenclub oder was es alles so gibt.
Schwer waren Todesfälle, besonders Beerdigungen von Kindern oder von Verunglückten. Das gehört dazu, aber man wird es nicht mehr los. Das liegt mir noch auf der Seele.
Insgesamt kann ich sagen: Meine Zeit auf Amrum war eine schöne Zeit. Eine richtig schöne Zeit. Ich habe auch nie das Gefühl gehabt, ich müsse hier weg. Das kam gar nicht in die Tüte.
Nach meiner Pensionierung 1993 habe ich mich noch weiter betätigt. Ich habe eine Menge Vertretungen für meine Nachfolger gemacht und mich ehrenamtlich im Öömrang Hüs engagiert. Außerdem habe ich jahrelang den fünf Nachbarjungs Nachhilfe gegeben und mit ihnen Schularbeiten gemacht. Sie sind alle gut durch den Realschulabschluss gekommen. Drei Johannsen-Kinder und zwei Konrad-Kinder. Da bin ich ein bisschen stolz drauf.“
En net letj iar för prääster M. Segschneider!
Ik wanske tu belewe noch ans sin feerang uunt´t Öömrang Hüs an san uastpreus–öömrang spriak….
Dr. Jochen Rohwer, Lübeck (fööruf faan Scharbeutz nuurdelk Timmendorfer Strand)