Das Heft “Seevögel” ist ein seit etlichen Jahren vom Seevogelschutzverein Jordsand mit jährlich einigen Ausgaben publiziertes Magazin über die Arbeit des Vereins und Ereignisse aus den insgesamt 22 Schutzgebieten an Nordsee, Ostsee und Elbe. Eines der wichtigsten, vor allem von den Besucherzahlen her bedeutendes Schutzgebiet ist die Amrumer Odde, seit 1936 “Seevogelfreistätte”, so damals genanntes Natur- und Vogelschutzgebiet. Seit 1971, seit über 50 Jahren, ist Dieter Kalisch Betreuer der Odde und in dieser Zeit so etwas wie eine Institution geworden. Aber er wurde nicht als Vogelwart geboren.
Nun meldet die genannte Zeitschrift, dass “sich auf der Amrumer Odde in diesem Jahre (2022) einiges ändert, nachdem Dieter Kalisch aus Altergründen seine Tätigkeit als Referent niedergelegt hat (…) wir sind ihm sehr dankbar und er ist immer auf der Odde willkommen (…) Mit Leonie Enners und Marc Begemann sind wir aber für die Zukunft gut aufgestellt (…)”.
Dieter Kalisch wurde am 10. März 1940 in Berlin geboren, zog aber 1946 mit den Eltern nach Dithmarschen und erlebte hier die Begegnung mit der Natur, die später sein Leben bestimmte. Aber zunächst erlernte er nach der Schulzeit – die Eltern waren inzwischen nach Hamburg gezogen – das Handwerk des Maschinenbauers und bildete sich autodidaktisch als Fotograf aus, um etwa 15 Jahre lang als Sportreporter nebenberuflich tätig zu sein. 1987 übernahm er mit Kollegen ein Fotogeschäft in Hamburg.
1971 kam Dieter als Vogelwarthelfer zum ersten Mal zur Amrumer Odde und engagierte sich von da an beim Verein Jordsand, dem Betreuer des Naturschutzgebietes, zunächst noch sporadisch, entsprechend seinen Verpflichtungen im Hamburger Fotogeschäft, dann zunehmend intensiver in seinem Ehrenamt. Der Verein Jordsand in Hamburg hatte den richtigen Mann an der richtigen Stelle eingesetzt. Und Dieter wuchs schnell in die vielfältigen Aufgaben des Naturschutzes auf der Odde hinein, wobei ihm auch seine handwerklichen Fähigkeiten zugute kamen. Er gewann sehr bald ein gutes Verhältnis zu den Verantwortlichen in der Gemeinde Norddorf und zu den Einheimischen. Denn er war kein “Bio-Ideologe”, wie viele der diplomierten und promovierten Biologen, die in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts in den Führungspositionen des Naturschutzes und in den Vorständen der Naturschutzvereine die Parole “Natur Natur sein lassen” propagierten und dem praktischen Naturschutz keine Bedeutung mehr zusprachen, egal, ob es um Übermengen von Krähen und Elstern, Möwen und Wildgänsen, Seehunden und Kegelrobben oder um das Zusammenspiel von Natur und Landwirtschaft ging. Praktische Beobachtungen und Ratschläge spielten keine Rolle mehr.
“Du musst einen Doktortitel haben, sonst wirst du nicht gehört”, war eine wiederkehrende Bemerkung von Dieter Kalisch.
Dieter machte sich bald durch seine handwerklichen Initiativen unersetzlich. Er war zunächst und lange auf eigene Kosten bei jeder Gelegenheit auf der Odde zur Stelle, besorgte im Frühjahr die Einzäunung rund um das Areal, insbesondere um die nördliche “Kiesfläche”, einem mit Muschelschalen und Steinen übersäten Ausläufer des Nehrungshakens, der besondere Bedeutung als Brutplatz der seltenen und gefährdeten Zwergseeschwalben hatte und Ruheplatz für Seehunde und Kegelrobben war. Denn aus Rücksicht auf die Bedeutung des Fremdenverkehrs durfte die Amrumer Nordspitze von Inselgästen umwandert werden. Für eben diese Gäste wurde auch eine Aussichtsplattform mit Treppenaufgang auf einer hohen Düne nördlich des Vogelwärterhauses errichtet, so dass ein Überblick über das große Tal, die sogenannte “Sahara”, gewährleistet wurde. Dieses Tal und die angrenzenden Dünenhänge sind von Silber- und Heringsmöwen besiedelt, die sich bei ihrem Brutgeschäft aus relativer Nähe beobachten lassen.
Bedingt durch die Nähe der Amrumer Kurorte bot die Amrumer Odde auch eine vorrangige Aufgabe, durch fast tägliche Führungen den Inselgästen Natur und Naturschutz nahe zu bringen. Die Amrumer Odde gehört zu den meistbesuchten Schutzgebieten des Vereins und ist für die Vereinskasse von entsprechender Bedeutung. Denn wie andere, auf ideelle Ziele ausgerichtete Vereine, ist auch Jordsand auf Spenden angewiesen.
Einen besonderen Höhepunkt erlebte Dieter Kalisch im August des Jahres 1989, als das Bundespräsidenten-Ehepaar Weizsäcker vier Wochen in Norddorf Urlaub machte und auch einige Male die Odde besuchte und persönlich und exklusiv zu einer Wattenexkursion geführt wurde.
Der Verein Jordsand erkannte und anerkannte bald das Engagement von Dieter und ernannte ihn 1976 vom Betreuer zum “Referenten” der Odde, so dass ihm nun die Gesamtbetreuung oblag. Und nun kam er noch häufiger nach Amrum, im Frühjahr, um das Häuschen für die Vogelwärter in Ordnung zu bringen und die wechselnden Vogelwärter einzuweisen, Forschungen, z. B. Beringungsaktionen zu unterstützen, Brut- und andere ornithologische Daten zu sammeln und an obere Naturschutzbehörden zu leiten. Dabei bestätigte sich allerdings auch sein Verdacht, dass betreffende Sachbearbeiter an einer speziellen Auswertung der Brutberichte nicht interessiert waren, und stellte eine Falle, indem er in einem Bericht die hohen Verluste an jungen Eiderenten den “im Wattenmeer vorhandenen Krokodilen” zuschrieb. Wie erwartet, wurde dieser sensationelle Hinweis übersehen!
Aber natürlich mussten auch profane Arbeiten erledigt werden, das Sammeln von Müll und von toten Seevögeln. Für besondere Aufregung sorgte die Havarie des Holzfrachters “Pallas” am 29. Oktober 1998, die eine erhebliche Ölpest im Bereich der nordfriesischen Inseln zur Folge hatte. Fast gleichzeitig wurden die Eidererpel im hiesigen Wattenmeer ein weiteres Mal von einem Darmparasiten befallen, so dass Hunderte verstorbener Vögel eingesammelt werden mussten. Schon im Vorjahr, 1997, hatte es im Frühsommer eine Katastrophe auf der Odde gegeben, als auf Amrum ausgesetzte Füchse in einer einzigen Nacht über 80 Möwen totbissen.
Durch Menschen und Raubwild verursachte Katastrophen waren aber nicht die einzigen. Die Amrumer Odde ist vor Jahrhunderten als Nehrungshaken mit Dünen von der Nordsee am saaleeiszeitlichen Inselkern aus Seesand aufgebaut worden. Aber das Meer gibt und nimmt. Die Odde liegt seit Jahrhunderten wieder im Abbruch durch die Brandung an der Westseite, und ganz große Sturmfluten rissen auch schon haushohe Dünenwälle weg und brachen in die Täler ein, so 1954, 1962, 1965 und 1976, und einige Male stand das Vogelwärterhaus bis über die Fensterbänke im Wasser. Und umgekehrt rückten dann über den Kniepsand gewaltige Sandmassen an, so dass das Haus mit hohem Kostenaufwand freigebaggert und die Wanderdünen bepflanzt und befestigt werden mussten. Aber auch nach kleineren Sturmfluten war Dieter immer zur Stelle, um nach dem Rechten zu sehen.
Sein Einsatz für die Odde und für den Naturschutz sprach sich auch “höheren Orts” um, und mehrfache Ehrungen und Auszeichnungen waren die Folge, zuletzt noch im Jahre 2012 der Verdienstorden der Bundesrepublik (Bundesverdienstkreuz), überreicht in Kiel durch den damaligen Landesumweltminister Robert Habeck.
Dieter war aber auch in das übrige Inselleben eingebunden. Bei Dorffesten und anderen Veranstaltungen baute er seinen “Jordsand-Stand” auf, war auch bei wichtigen kommunalpolitischen Ereignissen zu sehen. Er war so über die Jahre mehr Amrumer als Hamburger geworden, versäumte allerdings, sich auf Amrum eine Wohnung zu kaufen, als diese noch erschwinglich waren. Deshalb richtete er sich auf dem Campingplatz I in Wittdün, zunächst mit geräumigem Zelt, dann mit Wohnwagen eine feste Station ein.
Seit 1962 ist Dieter mit Jutta, geb. Schade, verheiratet und hat mit ihr drei Töchter. Jutta hat die unentwegten Amrum-Fahrten von Dieter nicht nur toleriert, sondern ihren Mann auch oft begleitet, bis eine schwere Krankheit dem ein Ende setzte. Das Alter und die Pflege seiner Frau haben nun auch für Dieter Kalisch einen Endpunkt gesetzt. ABER GANZ BESTIMMT WIRD ER NICHT ZUM LETZTEN MAL AUF AMRUM UND AUF “SEINER ODDE” GEWESEN SEIN!
2022 Georg Quedens Urheberrecht beim Verfasser