Einfach mal was machen – Kunst im Wind …


Kalle Wruck und Philipp Ricklefs (Amrumer Kunstverein)

Schon von Weitem sind sie zu sehen, die bunten Flaggen am Weg zum Nebler Strand. In diesem Jahr flattern sechs Kunstwerke hoch oben im Wind, und eines liegt querab vom Bohlenweg im Sand. Der Gegenwartskunst auf Amrum einen Ort zu geben, haben sich Kalle Wruck und Philipp Ricklefs vom Amrumer Kunstverein (www.kunstverein-amrum.de) auf die Fahnen geschrieben. Im wahrsten Sinn des Wortes. Schon seit 2014 ermöglichen sie zeitgenössischen Künstler*innen, im Sommer am Nebler Strandübergang auszustellen – ganz außerhalb geschlossener Räume, an hölzernen Fahnenstangen entlang des Bohlenwegs.

Vexillogie wird die Bedeutungslehre von Fahnen und Flaggen genannt und ist mit rund 60 Jahren eine recht junge Wissenschaft. (Fahnen werden übrigens geschwenkt, während Flaggen gehisst werden.) Was böte sich auf einer alten Seefahrer-Insel wie Amrum besser an, als Flaggen als künstlerisches Medium zu nutzen?

Kunst wirft Fragen auf. Hier Nadja Kurz‘ „Schamoffensive“ Teil 1

Erst auf den zweiten Blick offenbaren sich die vielschichtigen Deutungsmöglichkeiten der Flaggen und hinterlassen so manches Fragezeichen. Kunst gibt keine Antworten. Sie stellt Fragen und regt uns zum Nachdenken an, was im Leben von Bedeutung ist. Standen in den beiden letzten Jahren Klimawandel und Migration thematisch im Vordergrund der Ausstellung, machte der Amrumer Kunstverein dieses Jahr die Flagge als Medium selbst zum Thema. Die Fahnensymbolik ist aktueller denn je und weltweit von erschreckender Brisanz.

In  Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstler Matthias Droste, der die diesjährige Ausstellung kuratiert hat, lud man sieben zeitgenössische Künstler*innen ein, sich auf das Abenteuer der alljährlichen Flaggenausstellung auf Amrum einzulassen und Werke zum Thema einzureichen.

Da der Amrumer Kunstverein kein Budget hat, ist es schwierig, die Künstler*innnen persönlich nach Amrum einzuladen. Es reichte gerade für den Druck der Flaggen und den Besuch des Kurators.

Unverstanden zu Fall gebracht: Cäcilia Browns Installation aus Österreich

„Es ist schon etwas Besonderes.“, sagt der Amrumer Philipp Ricklefs, der selbst als freier Künstler in Berlin-Neukölln lebt. „Viele finden es super, außerhalb der White Cubes ausstellen zu können und haben richtig Bock auf das Projekt. Einfach mal was machen, sich drauf einlassen. Es ist ein niedrigschwelliges Angebot, eine unkomplizierte Möglichkeit, mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten. Die Leute kommen ja nicht wegen der Kunst an den Strand. Die Aufmerksamkeit dafür entsteht eher zufällig.“

Ein Abenteuer ist es allemal, die in der Regel auf synthetischen Flaggenstoff gedruckte Kunst der  Strand-Öffentlichkeit und dem Verwitterungsprozess an der See auszusetzen. Mehr oder weniger verblichen und zerfetzt von Sonne und Wind überstehen die Kunstwerke den Amrumer Sommer. „Der Verfall ist Teil des Projekts,“ erklärt Kalle Wruck. „Wenn die Saison zu Ende ist, holen wir die zerschlissenen Flaggen ein, waschen sie und heben sie gut auf. So entsteht unser Kunstarchiv.“

Ein Windsack für den Frieden (Justina Los)

Fünf Flaggen und ein Windsack waren zum Saisonbeginn aufgestellt worden und eine Sound-Installation mit drei Aluminiumröhren, die das Wimmern und Jaulen eines leeren Fahnenmastes simulierte. Die wurde aber von der Gemeinde kurzerhand abgeräumt, nachdem einige Badegäste sich über die lauten Wind-Geräusche beschwert hatten. Nun liegt das Kunstwerk der in Wien lebenden Künstlerin auf dem Kniep querab zum Bohlenweg und versandet. Der erwünschte Dialog blieb aus.

Die Kunst auf den Fahnen stellt gesellschaftlich brandaktuelle Fragen:

Unbedingt laut zu lesen – das Banner von Marco Schmitt

Als erste begegnet uns, treffend genau an diesem Ort aufgestellt, die „Schamoffensive“ Teil 1 von Nadja Kurz. Die Künstlerin befasst sich mit dem Thema Diversität und lässt uns unter geschwollenen, sehr ungleichen Beinen mit schweinchen-rosa Füßen, die in rote Sandaletten gepfercht sind, den Bohlenweg passieren. (www.nadjakurz.tumblr.com)

Wir kommen vorbei an der Lücke mit den drei Masten für Cäcilia Browns Sound-Installation aus Aluminium Profilen, die nun ohne Klagelied im Sand verwehen. (www.caeciliabrown.net)

Dann zieht uns Thomas Hörl (www.thomas-hoerl.tumblr.com) mit seinem Schriftzug „Du musst Caligari werden“ in den  dämonischen Strudel des expressionistischen Berlin der Zwischenkriegszeit.

Kasia Fudakowski verweist mit ihrem Werk „There‘s a certain cruelty in the air“ („Es liegt eine gewisse Grausamkeit in der Luft.“) auf den Ursprung des Animationsfilms. Ihr Standbild zeigt die blutige Umsetzung einer beschlossenen Maßnahme gegen den Anstieg des Meeresspiegel im Kontext einer fiktiven Erzählung. (www.kasiakasia.com)

Justina Los (www.justinalos.com) schickte für ihr Werk „Civilians“ („Zivilisten“) einen camouflage Windsack in Blau, aus dem ein Haarbüschel herausschaut. Den Fuß des Fahnenstamms ließ sie mit Sandsäcken bewehren, und bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Camouflage Muster als Luftaufnahme einer stilisierten, vom Krieg zerstörten Stadt.

Die stabilste Flagge in der Reihe ist, streng genommen, ein Banner, das zu tragen wäre. Marco Schmitt (www.marcoschmitt.net) nähte aus festem roten und schwarzen Baumwollstoff den Prototyp einer universeller Anti-Fahne. Gehisst, bleibt sie Utopie. Schmitt spielt mit der Vexillogie, seine Collage steckt voll sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen. Sprechen Sie am besten laut aus, was Sie sehen: „TerrA PI CE“. Klingt doch irgendwie nach Hoffnung auf Erden, oder?

Inception 2022: Linoldrucke von Inga Tausendfreund im Café Knülle

Unvermeidlich lassen mich die aufgeworfenen Fragen der Flaggen am Himmel über dem weißen Kniepsand an Yoko Ono und John Lennon denken. Und dazu passt ganz wunderbar, dass Julia Frankenbergs (www.juliafrankenberg.de) verfremdete Langnese-Werbung den Abschluss dieser Flaggenreihe bildet. Kurz vor dem Café Knülle verweist die Flagge der in Berlin lebenden Bildhauerin in feinstem Denglisch (Squirt-Eis.org) auf ihre „Spritz-Eis“-Aktion, mit der sie auf die vorherrschende Ignoranz in Wissenschaft, Forschung und Gesellschaft gegenüber der weiblichen Lust aufmerksam macht. Dass Frauen mit der Paraurethraldrüse (auch Skene-Drüse genannt) am Ausgang der Harnröhre über ein Pendant zur Prostata des Mannes verfügen und beim Orgasmus einen Erguss haben können, wissen selbst viele Frauen nicht. (Fühlt sich ein klein bisschen an wie Pippi machen müssen, ist aber ein klares und wohlriechendes Sekret, das eher an Fruchtwasser denn an männliche Samenflüssigkeit erinnert.)

Subversive Werbung für geschlechtergerechte Aufklärung

Es ist wirklich spannend, sich mit Fragen zeitgenössischer Kunst auseinanderzusetzen und auf den Internet-Seiten der am Nebler Strand vertretenen internationalen Künstler*innen mehr über ihr Schaffen zu erfahren. Im Café Knülle warten auf kunstinteressierte Gäste die passenden Hintergrund-Informationen zu den ausgestellten Kunstwerken und zwei weitere Projekte des Amrumer Kunstvereins.

Für das „Inception“-Projekt 2022 (die künstlerische Gestaltung der Rückseite der Papier-Tragetaschen des Cafés) wurde die von Amrum stammende Inga Tausenfreund gewonnen, die als künstlerische Autodidaktin ziemlich coole, freche Linolschnitte druckt.

Den Kaffeebecher („Cup 2022“) gestaltete diesmal Janine Eggert, die schon seit 2005 mit Philipp Ricklefs zusammenarbeitet. Und obwohl die Kunst-Becher in diesem Jahr erst Mitte August eintreffen (und dann käuflich zu erwerben sind), lässt sich im Café Knülle auch jetzt schon ein guter Kaffee genießen, neuerdings dazu sehr leckerer, selbst gebackener Kuchen. Erfrischungsgetränke,  Sundowner & Co. sind natürlich auch noch im Programm.

Squirt-Eis der Bildhauerin Julia Frankenberg

Neben den alljährlich künstlerisch neu gestaltete Objekten „Cup“ und „Inception“ sorgt die  Künstlerin Julia Frankenberg in diesem Sommer für eine eiskalte Überraschung im Café Knülle. Die Künstlerin schuf aus lebensmittelechtem Silikon eine Huffmanns Wachsmodellen nachempfundene Form zur Herstellung von Wassereis als „Prostata Feminina“. Mit etwas Glück können Sie im Café Knülle so ein fruchtiges Schleck-Eis am Stiel ergattern. In drei verschiedenen Geschmacksrichtungen, samt Aufklärungstext und subversivem Aufkleber„Squirt the pain away“, zur erfrischenden Diskussion am Strand über geschlechtsspezifische Datenlücken. Und hier schließt sich der Kreis zu den unegalen Füßen in zu engen Schuhen.

Danke an Matthias Droste für die gelungene Kuratierung und an alle Künstler*innen, dass Ihr auf Amrum am Strand ausstellt. Danke an Philipp und Kalle vom Amrumer Kunstverein, dass Ihr der zeitgenössischen Kunst auf der Insel jeden Sommer einen Weg bahnt und danke an alle Beteiligten, dass wir auf dem Weg zum Meer so en passant in diese spannende Welt eintauchen dürfen.

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Über Astrid Thomas-Niemann

Astrid Thomas-Niemann ist gelernte Schifffahrtskauffrau sowie studierte Sprach- und Erziehungswissenschaftlerin. Sie hat viele Jahre als Schifffahrtsanalystin gearbeitet und lebt seit 2015 in Wittdün. Als junge Frau kam Astrid 1981 das erste Mal auf die Insel und besuchte auf Zeltplatz II die Niemanns aus Hamburg, die Amrum seit 1962 urlaubsmäßig die Treue halten, inzwischen bereits in der 4. Generation.

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