Auf Spurensuche von New York nach Amrum …


Shelley Hoberman mit Ehemann Jim und Tochter Mara in Nebel

Manchmal geht das Leben eigentümliche Wege, und die Spuren der Vergangenheit führen auf eine kleine Nordseeinsel, von der man nicht einmal ahnte, dass sie existiert. So erging es Shelley Hoberman aus New York City mit Anfang 70, als sie den Namen ihrer leiblichen Mutter erfuhr: Helen Viola Roos, geborene Quedens. Zusammen mit ihrem Mann Jim und ihrer älteren Tochter Mara, die mit ihrer Familie in Paris lebt, reiste sie in diesem Jahr nach Amrum und begab sich auf Spurensuche.

Shelley ist 1948 in Queens geboren und wurde als Baby von einer jüdischen Familie adoptiert. Die Vorfahren ihrer Adoptiveltern und die ihres Mannes stammen aus der Ukraine. „Mein Vater hieß Katowitz und kam 1917 an der Lower Eastside zur Welt, erzählt die aufgeschlossene Amerikanerin auf der Terrasse ihres Quartiers im alten Kapitänshaus in Nebel. „Ich habe immer gewusst, dass ich adoptiert war. Ich sehe ja auch ganz anders aus als meine Familie.

Als junge Frau fand sie ihren Geburtsnamen heraus: Mildred Wolf. Der hätte englisch, deutsch oder jüdisch sein können. Wolf ist auch in Amerika ein Allerweltsname. Es schien sinnlos, danach zu suchen. Bis 2019 lagen die Akten privater Adoptionen im Staat New York unter strengem Verschluss. Erst vor zwei Jahren, mitten in der Covid-Pandemie, bekam Shelley endlich eine offizielle Kopie ihrer Geburtsurkunde. Als leibliche Eltern standen darin „Paul Wolf“ und „Helen Quedens. Durch Erk Gerret Quedens aus Flensburg fand sie im Internet den Stammbaum ihrer leiblichen Mutter, und der führte Shelley und ihre Familie in diesem Sommer nach Nebel.

Jens Quedens möchte den bis 1610 zurückreichenden Familien-Stammbaum in diesem hübschen Vordruck erfassen

„Dass Gäste aus den USA hier auf Amrum nach ihren Wurzeln suchen, ist nichts Ungewöhnliches, sagt Jens Quedens vom Öömrang Ferian. „Durch die Auswanderungswellen im 19. und 20. Jahrhundert haben ja viele Amrumer Familien Nachfahren in den Vereinigten Staaten, aber Shelleys Schicksal hat mich wirklich überrascht. Sie wusste bis ins hohe Alter gar nichts über ihre Herkunft und hatte gar keine Ahnung, dass sich die Geschichte ihrer Herkunftsfamilie noch länger zurück verfolgen lässt als die der Einwanderung auf der Mayflower.“

Helen Viola Quedens war die ältere Tochter von Jonny Quedens aus Nebel und seiner Frau Alma Kerstin, geborene Schmidt, die auch von Amrum stammte. Jonny war wie die meisten seiner Geschwister nach dem 1. Weltkrieg nach Amerika ausgewandert und betrieb zusammen mit dem wesentlich jüngeren August Kölzow ein Delikatessengeschäft im New Yorker Stadtbezirk Queens. 1923 heirateten Jonny und Alma. Sie bekamen zwei Kinder: Helen Viola (geboren 1924) und Edith Mildred (geboren 1927) – beide in New York geboren, also amerikanische Staatsbürgerinnen.

Als die Deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfiel und der zweite Weltkrieg begann, waren Alma und ihre beiden Töchtern auf Amrum und kamen nicht mehr weg. Sie saßen während des Krieges in Deutschland fest, während Jonny in New York war. Er hat seine Familie erst nach dem Krieg wiedergesehen. 1947 konnten Helen und Edith als amerikanische Staatsbürgerinnen zurück zu ihrem Vater in die Staaten, Ehefrau Alma als Deutsche durfte erst 1949 nachkommen.

Das Grab von Jonnys jüngerem Bruder Ernst Quedens und dessen Frau Petra existiert noch.

Genau in diesem Zeitraum wurde die ledige Helen Quedens in New York schwanger und entband im Juli 1948 im Park Hospital in Queens eine kleine Tochter namens Mildred Wolf. Das Baby wurde kurz nach der Geburt zur Adoption freigegeben und wuchs als Shelley Katowitz behütet und geliebt von ihrer Adoptivfamilie in New York City auf.

Helen Quedens heiratete später den Niederländer Henry Roos und bekam noch zwei weitere Kinder. Sie verstarb 1975 in den Niederlanden, fünf Jahre vor ihrer Mutter Alma, die zusammen mit Jonny aus den Staaten zurückgekehrt war und ihren Lebensabend in Wittdün verbrachte. Jonny Quedens starb im Oktober 1967, Alma folgte ihm 1980.

„Ich bedauere nicht, adoptiert worden zu sein. Ich bin mit meiner Identität im Reinen und nicht auf der Suche nach einer Familie. Ich habe ja meine und bin äußerst zufrieden mit meinem Leben, sagt Shelley Hoberman im Gespräch mit Amrum News. „Helen war damals in einer Notlage. Das verstehe ich. Wir haben nur einen kurzen Moment im Leben geteilt, aber ich bin froh, nach Amrum gekommen zu sein und zu sehen, wo sie herkam und wo ein Teil meiner Wurzeln liegt.“

Amrum erinnere sie sehr an die Halbinsel Cape Cod in Massachusetts, einmal abgesehen von den Reetdachhäusern. Sie fühle sich dieser Landschaft seit jeher verbunden und verbringe dort viel Zeit im Sommerhaus ihrer Familie.

Traurig mache sie, den Grabstein ihrer leiblichen Großmutter nicht mehr gesehen zu haben. Das Grab auf dem Friedhof in Nebel wurde aufgelöst und der Stein geschreddert, bevor Shelley auch nur ahnen konnte, wer ihre leiblichen Vorfahren waren. „Alma und Jonny gehörten doch zu einer bedeutenden Familie, will hier niemand an sie erinnern?, fragte sie mich ganz erstaunt.

Ich verwies auf die Friedhofsordnung und die Verantwortung der Angehörigen. Aber wie steht es grundsätzlich um unsere Erinnerungs-Kultur im Friedhofswesen?

Auf dem neuen Friedhof liegen die sterblichen Überreste namhafte Künstler*innen wie Karin Hertz, Hans Jaenisch, W. R. Huth. Noch werden einige dieser Grabstellen unterhalten. (Im Bild das Grab von Ruth und Willy Robert Huth, Ehrenbürger der Gemeinde Nebel)

Mir wurde in letzter Zeit häufiger die Frage gestellt, wie wir mit kultur- oder kunsthistorisch bedeutsamen Grabsteinen der jüngeren Zeitgeschichte auf Amrum umgehen. Insbesondere von älteren Angehörigen bereits verstorbener Insulaner und von langjährigen Urlaubsgästen, die Amrums Friedhöfe gern besuchen und die Gräber manch‘ bedeutender Persönlichkeit vermissen.

Müssen wir wirklich alles zerstören, was nach 30 Jahren von den nachkommenden Angehörigen nicht mehr bezahlt wird? So verschwinden mehr und mehr „sprechende Steine“ für die Zukunft. Bräuchten wir nicht dringend eine Anlaufstelle für Kultur- und Denkmalschutz auf der Insel, die Vorschläge aus der Gesellschaft entgegennimmt und ein kundiges Gremium, das entscheiden kann, welche Grabsteine auf Kosten der Allgemeinheit erhalten werden sollten?

 

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Über Astrid Thomas-Niemann

Astrid Thomas-Niemann ist gelernte Schifffahrtskauffrau sowie studierte Sprach- und Erziehungswissenschaftlerin. Sie hat viele Jahre als Schifffahrtsanalystin gearbeitet und lebt seit 2015 in Wittdün. Als junge Frau kam Astrid 1981 das erste Mal auf die Insel und besuchte auf Zeltplatz II die Niemanns aus Hamburg, die Amrum seit 1962 urlaubsmäßig die Treue halten, inzwischen bereits in der 4. Generation.

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