Durchschnittlich landen jedes Jahr weltweit 9 Millionen Tonnen Plastik ins Meer. Das ist eine LKW-Ladung pro Minute. Mit dieser erschreckenden Hausnummer begann am vergangenen Freitag ein hochinteressanter Vortrag, der auch für die, die sich schon lange mit dem Thema beschäftigen, einiges Neues bereithielt.
Die Volkshochschule Amrum hatte den Verein Küste gegen Plastik e. V. auf die Insel eingeladen. „Wir wollten uns einen Überblick verschaffen, wie schlimm die Situation wirklich ist“, sagte VHS-Vorstandsvorsitzender Matthias Theis. „Denn wir finden ja täglich Plastikmüll an unseren Stränden. Aber viele hier wissen gar nicht, was sie, über das Aufsammeln hinaus, noch alles tun können. Man fühlt sich oft ganz hilflos.“ Auf Amrum gab es schon vor über 30 Jahren mit ersten Baumwolltaschen Versuche, das Plastik zu reduzieren. Dennoch nähme Plastik immer weiter zu.
Domestosflasche von 1965 – fast völlig intakt
Das Interesse von Jennifer Timrott vom Verein Küste gegen Plastik an diesem Thema begann mit einer Flasche „Zeozon Sonnenmilch“ mit Lichtschutzfaktor 4. Sie fand sie am Flutsaum und wunderte sich: Lichtschutzfaktor 4? Eine Recherche zeigte ihr, dass diese noch immer fast intakte Flasche aus den 1970er Jahren stammte. Eine Verpackung eines Milram-Quarks war von 1974, einer Rama-Margarine von 1972, einer Zewa-Taschentücher-Verpackung von 1969 und einer Domestos-Flasche aus dem Jahr 1965. Alle schon jahrzehntelang im Meer, immer noch identifizierbar und teilweise fast völlig intakt.
Timrott war schockiert. „Die waren länger im Meer unterwegs als ich auf der Welt bin!“, sagte sie. „Dadurch wird spürbar, wo da der Wahnsinn liegt. Das fand ich haarsträubend.“ Und so gründete sie zusammen mit ihrem Mann Frank Timrott den Verein Küste gegen Plastik e. V.
Mehr Wert darauf legen, dass Müll gar nicht erst eingetragen wird
Klar wurde bei dem Vortrag, durch Müllsammeln allein wird dieses Problem nicht zu reduzieren sein. Und die großen internationalen Meeresmüll-Sammelarbeiten haben auch Nachteile. Timrott zeigte dazu einen kleinen Plastikbecher, ebenfalls fast intakt. Und bewohnt, zumindest ehemals. Eine Kolonie von über 100 Moostierchen hat einst auf diesem Becher gelebt. „Es siedeln sich Lebewesen auf diesen Plastikteilen an“, sagte Timrott. „Werden die aus dem Meer geholt, zerstören wir damit auch Leben und Lebensräume. Das macht mir richtig Bauchschmerzen.“ Genau deshalb sei das Rausholen nicht immer das Beste. Auch das „Downcyceln“ zu Sonnenbrillen und anderem sei nur eine Scheinlösung. Doch was ist die Lösung?
„Wir sollten mehr Wert darauf legen, dass gar nicht erst Müll ins Meer eingetragen wird. Ein systemischer Blick ist dafür besonders wichtig.“ Denn Plastik zersetzt sich nicht wie Naturmaterialien. Es zerfällt zwar in immer kleinere Einzelteile, aber die bleiben. Plastik kann in der Natur nicht weiter verwertet werden. Und so reichert sich mit immer mehr Meeresmüll immer mehr Plastik in den Meeren und den Lebewesen an. Täglich eine LKW-Ladung. Pro Jahr 9 Millionen Tonnen.
Wie weltumspannend und gefährlich das Problem Plastik ist, zeigt auch der Dokumentarfilm „Plastic Planet“ von Werner Boote (gratis auf www.bpb.de/lernen/filmbildung/189230/plastic-planet/ zu sehen).
Es braucht ganz krasse Eingriffe in die Systeme
Der systemische Blick, so Timrott, beinhalte, zu schauen, woher das Plastik im Meer kommt. Ob es Pellets sind, die zur Plastikherstellung gefertigt werden und schon vor der Fertigung über Bäche und Flüsse ins Meer gelangen. Oder, wie eine Amrumerin erzählte, unwahrscheinlich viel „Sinnlos-Plastik“ schon bei der Anlieferung von Supermarkt-Waren. Oder Netzteile aus der Fischerei in so gut wie jedem Seegrasbüschel. Oder all das Plastik und Styropor, das auf Baustellen durch die Gegend fliege, und für das sich niemand verantwortlich fühle.
Jennifer Timrott bestätigte, dass es gar nicht nur die klassische Taschentuch- und Schokoriegel-Verpackung ist, die aus der Tasche fällt (oder fallengelassen wird). Es gibt an jeder einzelnen Stelle unseres Lebens Punkte, an denen wir dringend umdenken müssen. Und sie warnte: „Wir werden das Plastik nie rausbekommen, wenn wir nicht ganz krasse Eingriffe in die Systeme vornehmen.“
97 Prozent der Eissturmvögel haben Plastik und Latex im Magen
Wie groß allein das Leid der Vögel ist, zeigte sie auf ihren Fotos neben massenhaft angeschwemmtem Müll an deutschen und dänischen Küsten. Und beschrieb eindrücklich, wie viele Basstölpel sich nicht dagegen wehren können, wenn die überflüssigen Dollyropes aus der Fischerei an den Widerhaken ihrer Schnäbel hängenbleiben und sie so langsam verhungern. Oder ihre Jungen sich darin verheddern, aufhängen und elendig ersticken. Oder wie Eissturmvögel, die ihre Nahrung auf hoher See nahe der Wasseroberfläche fischen, ihren Magen dadurch mit Plastik und Latex (von Luftballons) füllen und so bei vollem Magen verhungern. Von allen Eissturmvögeln, die am Forschungs- und Technologiezentrum Westküste in Büsum untersucht würden, hätten 97 Prozent Plastik und Latex im Magen. Durchschnittlich, auf einen 70 Kilo schweren Menschen hochgerechnet, so viel wie einen vollen Essteller.
Protestieren mit Hilfe der App „REPLACE PLASTIC“
Die Verursacher? Menschen. Aber nicht nur „die anderen“, auch wir selbst. „Die anderen“ sind die, die nach wie vor illegal Müll „ins blaue Regal“ (das Meer) kippen. Aber auch Muschelfarmen, Fischerei, Öl-Plattformen, technologische Granulate, Containerverluste, fliegender Hausmüll. Und wir selbst sind die, die wir uns nicht oder nicht ausreichend im Handel dagegen wehren. Doch genau dafür hat der Verein Küste gegen Plastik eine App entwickelt: „REPLACE PLASTIC“.
Diese App gibt es gratis in jedem App-Store. Mit ihr können wir alle die Barcodes jener Waren aus dem Handel einscannen, die unnötig oder in unnötig viel Plastik verpackt sind. Den Scan senden wir einfach ab, und das war’s schon. Den Rest übernimmt der Verein. Gibt es von einer Ware 20 Scans oder sind vier Wochen seit dem Scan vergangen, sendet der Verein eine Mail an die Hersteller. Dadurch erfahren die, dass ihre Plastikverpackung bei uns nicht so gut ankommt.
24 Prozent des Gasverbrauchs zur Herstellung von Plastik
Mittlerweile, so Timrott, können sich deshalb die Hersteller nicht mehr mit den üblichen Antworten herausreden wie: „die Kunden wollen es so“ oder „aus Produktschutzgründen“. Sie erfahren, dass diese Einstellung sehr reale, negative Auswirkungen hat. Auf diese Initiative hin haben bereits Unternehmen umgedacht und ihre Verpackungen verändert. Meist seien es kleinere Unternehmen, die aber langsam aber sicher einen Sog erzeugten, dem die großen würden folgen müssen. Sogar in Brüssel, auf EU-Ebene, war Timrott bereits aktiv.
Angesichts der aktuellen Energiekrise gab sie zu bedenken: „Allein 24 Prozent des Gasverbrauchs in Deutschland wird zur Herstellung von Plastikprodukten gebraucht.“ Eine Amrumerin kommentierte: „Es geht nur über Geld. Wenn alle Kosten mit reingerechnet würden, würden die Preise durch die Decke gehen.“ Timrott stimmte zu: „Wir hätten ganz andere Ökobilanzen, wenn Unternehmen dafür bezahlen müssten, dass ihre Produkte für ewige Zeiten Leid verursachen.“
Jede:r Einzelne kann tatsächlich etwas bewegen
So schloss ein hochinteressanter Abend im Norddorfer Hotel Seeblick, der informierte und schockierte. Dennoch bestärkte er das Publikum in dem Gedanken, dass jede:r Einzelne tatsächlich etwas bewegen kann. Mit dem Aufsammeln von Müll bei jedem Strandspaziergang (die Amrum Touristik stellt dafür Sammeltaschen an den Strandübergängen zur Verfügung), mit der Vermeidung von Plastikmüll und jetzt auch mit einem einfachen Scan von Barcodes.
Wer sich über die App und die Arbeit des Vereins Küste gegen Plastik e. V. informieren möchte, findet alles Wichtige dazu auf www.kueste-gegen-plastik.de und www.replaceplastic.de.
Text und Fotos: VHS Amrum