“Verrückt” in diesem Sinne sind die drei Austernfischerpaare auf der Südspitze von Wittdün natürlich nicht. Aber sie verhalten sich hinsichtlich ihrer Brutplätze ganz ungewöhnlich, im Vergleich zu den anderen Vögeln ihrer Art. Das eine Paar brütet – schon seit Jahrzehnten – zwischen den Basaltsteine der Strandpromenaden-Berme auf der äußersten Südspitze, wobei die brütenden Vögel, die normalerweise zum Urfeind Mensch eine Fluchtdistanz von 30 – 40 Metern haben, diesen kaum beachten. Das besagte Austernfischerpaar läßt den täglichen Strom der Wanderer auf der Promenade nur wenige Meter entfernt vorbeilaufen und neigt allenfalls mal den Kopf, um die Menschen genauer zu beäugen.
Nicht weit entfernt, oben im Garten des Personal- und Ferienhauses des Berlin-Wilmersdorfer Nordseeheims, hat ein anderes Paar sein Brutrevier gefunden und brütet hier auch schon seit mindestens zehn, zwölf Jahren. Kurioserweise befindet sich das Gelege in einem überdimensionierten Blumentopf in direkter Nähe zu den Strandkörben und dem Gartenmobiliar. Die sich hier aufhaltenden Menschen stören das Brutpaar aber nicht. Am besten dokumentiert ist allerdings das dritte Paar auf der Südspitze, die sogenannten WDR-Austernfischer auf dem Fähranleger von Wittdün. Dieses Paar ist hier seit mindestens 2002 notiert, hat aber sicherlich schon viel früher in der unmittelbaren Umgebung, am Strande oder auf dem kleinen Dünenwall rechts oder links seinen Brutplatz gehabt. Schon Anfang der 1980er Jahre brütete hier ein Paar und hatte relativ großen Bruterfolg. Manchmal wurden alle drei Jungen aus dem Dreiergelege flügge. Damals gab es auf der Südspitze Wittdün auch noch keinen höheren Baumwuchs, der der Rabenkrähe Gelegenheit zu Brüten bot. Heute ist das hier schon seit Jahren ansässige Krähenpaar die Ursache für die Brutverluste der Austernfischer. Gerade kürzlich hat, wie schon so oft, das Austernfischerpaar aus dem Blumentopf vom Wilmersdorfer Nordseeheim wieder die Brut verloren.
Aber die WDR-Austernfischer lassen sich den Raub von Gelegen oder Jungen durch Möwen oder Krähen nicht gefallen. Letztere sind noch im Anflug ein ganzes Stück entfernt, da werden sie schon mit lautem Geschrei von den Austernfischern attackiert und in die Flucht geschlagen. Die WDR Austernfischer brüteten etliche Jahre in einem Feldsteinkranz direkt am WDR-Gebäude. Hier sorgte die Besatzung des Güterschuppens, voran Peter Voss, für eine lockere Markierung und Absperrung, so dass das Austernfischpaar Jahr für Jahr Bruterfolg hatte. Aber auch hier gab es durch Möwen und Krähen Verluste, sobald die Jungen über den Fähranleger zur Berme auf der Nordwestseite gewandert waren. In einigen Jahren wurden ein, einige Male sogar zwei Jungvögel großgezogen. Aber es gab auch Jahre mit Totalverlust. Das WDR-Austernfischerpaar wurde aber im Juli 2011 auf ganz ungewöhnliche Weise seinen schon halb erwachsenen Jungvogel los. Ein Austernfischerpaar auf der Ostseite des Fähranleger hatte offenbar die eigenen Jungen verloren, besetzten das Dach des WDR-Gebäudes und begannen einen lauten und anhaltenden Streit mit dem dortigen Paar, dessen Jungvogel orientierungslos um die Ostmauer des Fähranlegers herumrannte und damit das Elternrevier verlassen hatte. Es wurde sofort von den Eindringlingen in die Betreuung genommen und zur Nahrungssuche im Gelände herumgeführt. Vergeblich versuchten die WDR-Austernfischer fast eine Woche lang, ihren Jungvogel zurückzulocken, dem aber war es egal, von wem er gefüttert wurde. Vor zwei Jahren (2014) bot sich dann am WDR-Gebäude ein ganz neues, noch nie beobachtetes oder in der Literatur beschriebenes Ereignis: Offensichtliche Bigamie bei Austernfischern. Denn plötzlich saß neben dem eigentlichen WDR-Austernfischer, nur einen halben Meter entfernt, ein zweiter auf einem kompletten Gelege von drei Eiern. Wäre es ein ganz fremder Artgenosse gewesen, würde das WDR-Austernfischerpaar diesen niemals in ihrer Nähe geduldet haben. Ob es sich nun um eine reguläre “Zweitfrau” handelte, oder vielleicht um einen Jungvogel aus einer früheren Brut, den die Eltern ausnahmsweise in der Nähe duldeten, war nicht zu ermitteln. Die Brut war auch etwas locker. Oft blieben die Eier für längere Zeit unbedeckt, so dass keine Jungen schlüpften. Leider wurde versäumt zu kontrollieren, ob die Eier befruchtet waren. Immerhin versuchte diese “Zweitfrau” später immer wieder, sich an der Fütterung der Jungen des WDR-Austernfischerpaares zu beteiligen, was aber von diesen verwehrt wurde, so dass sie schließlich aufgab.
Im vorigen Jahr (2015) erfolgte keine erfolgreiche Brut. Durch Baumaßnahmen stand der Fähranleger fast das ganze Jahr “überkopf” und die Feldsteinkante am WDR-Gebäude wurde beseitigt, so dass die Austernfischer ihren langjährigen Brutplatz verloren. Sie versuchten dann, umgeben von Baumaschinen und Baulärm auf der Berme (Schräge) an der Westseite des Fähranleger eine Brut. Aber in den Steinen dort gab es keine geeignete Vertiefung und die Eier rollten weg, kühlten aus und starben ab. Eine nachträgliche Nisthilfe durch Sand kam zu spät. Die Austernfischer saßen auf “faulen” Eiern und hielten bis in den August aus, ehe sie akzeptierten, dass Nachwuchs nicht mehr zu erwarten war. Für 2016 wurde deshalb rechtzeitig mit Hilfe von Peter Voß ein Brutplatz an der langjährigen Stelle direkt am WDR-Gebäude hergerichtet und auch von den Austernfischern angenommen. Aber leider wurden hier die Eier von unbekannter Menschenhand weggenommen und sich sogar ein Jux mit einem hineingelegten punktierten Hühnerei erlaubt. Aber auf der Berme des Fähranlegers war eine zweite Brutmöglichkeit mit Vertiefung, Sand und Feldsteinumrandung eingerichtet, und hier wurden zwei Eier ausgebrütet. Die beiden Jungvögel wachsen nun heran, vorzüglich betreut von den Elternvögeln, die abwechselnd in das Watt eilen, um Würmer aus dem Boden zu stochern und diese den Jungen zuzutragen. Störenfriede, ob vorbeifliegende Möwen, auftauchende Krähen oder Menschen mit und ohne Hund, werden ganz energisch attackiert. Aber viele Inselgäste und Einheimische bleiben auch oben am Geländer stehen und freuen sich über das intensive Familienleben des WDR-Austerfischerpaares, das im Laufe seines Lebens schon manche Jungvögel großgezogen hat und voraussichtlich in künftigen Jahren noch weitere aufziehen wird.
Denn Austernfischer werden vergleichsweise sehr alt, um die 35 Jahre. Und ein einmal “verheiratetes” Paar bleibt immer zusammen. Jedenfalls ist die Scheidungsrate bei Austernfischern wesentlich geringer als beim Menschen. Und auch dem einmal erworbenen – und gegenüber anderen Austernfischerpaaren oft heftig erkämpften – Brutplatz wird lebenslange Treue gehalten.
Georg Quedens